Heute vor 20 Jahren wurde bekanntgegeben, daß die Urlauber aus der DDR, die sich seinerzeit in der westdeutschen Botschaft in Prag versammelt hatten, in die Bundesrepublik ausreisen durften. Das geradezu herkulische Auftreten von Hans-Dietrich Genscher, der damals als Bundesaußenminister mit den osteuropäischen Staaten einschließlich der DDR und mit den alliierten Siegermächten verhandelte, brachte ihm daraufhin in Kennerkreisen den Spitznamen „Genschman“ ein. Während nun in der Blogosphäre in dem Zusammenhang teilweise von „Wiedervereinigung“, „Gänsehaut“, „Glück“, „Märchen“ und „Volk“ verklärend die Rede ist, erinnere ich mich an die Ereignisse eher sachlich.
Zunächst ist die Bezeichnung „Wiedervereinigung“ falsch, denn der Begriff legt nahe, es wäre 1989 ff. an den Zustand vor der deutschen Teilung von 1949 unmittelbar angeknüpft worden, was natürlich nicht der Fall ist. Walter Jens hatte schon damals darauf hingewiesen, daß die gesamte jüdische Intelligenz und Kultur, die das gesellschaftliche Leben in Deutschland vor der Machtergreifung von 1933 maßgeblich bestimmt hatte, schon lange vor der Teilung aus dem Land verschwunden war: vertrieben, ermordet, verbrannt. Wenn auch einige Verfolgte nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurückkamen – teils in den Westen, teils in den Osten –, so konnte an die Vergangenheit doch keinesfalls nahtlos angeknüpft werden. Aber auch im übrigen hatten vierzig Jahre geschichtlicher Entwicklung die Verhältnisse so maßgeblich verändert, daß es vollkommen gerechtfertigt ist, von den „beiden deutschen Staaten“ zu sprechen, was ja auch dem damaligen offiziellen Sprachgebrauch entsprach: Zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei politische und wirtschaftliche Systeme und dergleichen.
Die DDR war für uns 1989 ganz schlicht Ausland. Ein Land wie jedes andere auch. Die Gänsefüßchen in der Springer-Presse um das Kürzel DDR wirkten für einen jungen Bürger der BRD eher lächerlich. Und als Berlin durch Bundestagsbeschluß zur Bundeshauptstadt erklärt wurde, war für uns klar, daß es sich fortan definitiv nicht mehr um „unser Land“ handeln würde. Wir haben damals nichts gewonnen, sondern unsere Bonner Republik verloren. Im Nachhinein sieht man, daß alle sie verloren haben, denn auch die DDR-Bürger dürften sich mehrheitlich eine Gesellschaft gewünscht haben, die eher vom rheinischen Kapitalismus als vom Neoliberalismus geprägt ist.
Ich erinnere mich übrigens auch noch gut an die Zweiklassengesellschaft DDR: Die einen fuhren zusammengekauert, bärtig und von unserer Warenwelt und der Dynamik unseres Straßenverkehrs offenbar völlig überwältigt im – unserer Wahrnehmung nach – geradezu steinzeitlichen Trabbi umher – die anderen waren schon damals weitgereist, weltläufig, studiert, mehrsprachig, kulturinteressiert und fuhren Lada. Ich erinnere mich an einen schönen Sommerabend mit ehemaligen „Kader“-Angehörigen. Wir aßen gut, unterhielten uns interessant, und zum Abschluß hörten wir Brahms. Dreimal darf man raten, zu welcher Gruppe unsere heutige Bundeskanzlerin damals gehört haben mag. Klassengesellschaft Ost. Heute im Feuilleton als „Turm“ 1000seitig verklärt.
Nein, ein Märchen war es wirklich nicht. Es war ziemlich harte Realität für alle Beteiligten – und das ist es auch immer noch und immer mehr. Es kamen härtere Tage.
Eher kurios ist dagegen im nachhinein, daß gerade die SPD, die damals in den 80er Jahren mit gemeinsamen Erklärungen etc. die Nähe zur SED gesucht hatte und auch mehrfach gemeinsame Gespräche in der DDR geführt hatte (und deshalb gerade vom Stahlhelmflügel der CDU angefeindet worden war), heute ausgerechnet mit der Linkspartei nicht zusammenarbeiten möchte …