Den tiefen Graben, der seit 1968 quer durch die deutsche Gesellschaft geht, hatte ich erst vor einer Woche wieder besichtigen können. Dadurch angeregt, las ich gestern Albrecht von Luckes knapp 80seitigen Essay „68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht“, der 2008 zum 40. Jahrestag der Aufstände im Berliner Wagenbach-Verlag erschienen war.
Von Lucke verwendet nur etwa die Hälfte seines Textes auf die Nacherzählung der historischen Ereignisse von 1967 bis zur Gegenwart. Am auffälligsten erscheint ihm, daß „1968“ im publizistischen Mainstream mittlerweile bevorzugt vom Deutschen Herbst „1977“ aus erzählt wird. Dieses Narrativ macht ihn mißtrauisch, und es ist für ihn Anlaß, die Sache mit 68 einmal vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem er weiter ausgreift und den zeitgeschichtlichen Ablauf in die deutsche Geschichte seit dem 19. Jahrhundert einordnet. Aus dieser Sicht wird „68“, obwohl es sich dabei um eine Bewegung handelte, die alle westlichen Staaten erfaßt hatte, zumindest in Deutschland richtigerweise zu einem Kapitel des Deutschen Sonderwegs und seiner Folgewirkungen im 20. Jahrhundert.
Auf zwei neuere Diskurse geht von Lucke in diesem Zusammenhang näher ein. Zum einen setzt er sich mit der Debatte um die SS-Zugehörigkeit von Günter Grass auseinander, in der von bürgerlicher Seite versucht worden war, verallgemeinernd eine direkte Linie von 1933 zu 1968 zu zeichnen, um die linke kritische Position um so nachhaltiger zu entwerten. Martin Mosebach war bekanntlich in seiner Bücherpreisrede 2007 soweit gegangen, noch weiter zu gehen und die Achse bis zur Französischen Revolution zurückzuverfolgen. Natürlich ist das abwegig, natürlich führt kein Weg von der Aufklärung zum Faschismus und erst recht nicht zu den Gegnern der alten Nazis, die in den 60er Jahren noch allenthalben saßen bis hin zu Kurt Georg Kiesinger im Bundeskanzleramt und dem Marinerichter Filbinger, aber das interessiert die Vertreter dieser Richtung herzlich wenig. Die Rehabilitation des Bürgertums, das den Nazis schon bei der Machtergreifung nichts mehr entgegenzusetzen hatte, gelingt ihnen trotzdem nicht, den Büchern Joachim Fests zum Trotz.
Der zweite Diskurs, der im Mittelpunkt der Darstellung steht, betrifft die Sozialpolitik, wo bis heute versucht wird, den National-„Sozialismus“ des Dritten Reichs mit dem Sozialismus der DDR und schließlich mit dem deutschen Sozialstaat überhaupt gleichzusetzen. Aus dieser Perspektive ist dann alles Soziale gleich „sozialistisch“, rechts ist gleich links, und das kann man ja bekanntlich nicht velwechsern, die Ernst Jandl sagte. Hier rächt es sich heute, so kann man hinzufügen, daß es der deutschen Staatsrechtslehre, abgesehen von Wolfgang Abendroth, nie ein Anliegen war, den sozialen Rechtsstaat mit wirklich tragfähigen Inhalten zu füllen, die dem Sozialabbau heute entgegengehalten werden könnten. So kann die Politik von dem „weiten Gestaltungsspielraum“, den ihr das Bundesverfassungsgericht stets zugebilligt hat, Gebrauch machen.
Von Lucke belegt seine Ausführungen sorgfältig mit Nachweisen aus aktuellen politischen Sachbüchern, und es stimmt nachdenklich, daß der größte Teil davon auf der Liste der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung steht und in den letzten Jahren aus Steuermitteln weiter verteilt worden war. Er würdigt die wichtige Rolle, die die 68er gespielt hatten, indem sie als citoyens sich den bourgeois entgegenstellten und sie damit bis heute als das bloßgestellt haben, was sie sind und immer schon waren: Ziemlich peinlich. Aber auch gefährlich, denn sie würden sich mit ihrer Haltung einer Wendung, wie sie 1933 möglich war, auch heute ganz sicherlich nicht wirksam in den Weg stellen können. Das folgt bereits aus der apolitischen Haltung der biedermeierlichen neuen Bürgerlichkeit, derer sie sich bis auf weiteres verschrieben haben.
Die Analyse greift an einer Stelle zu kurz: Von Lucke versäumt es nämlich, den Bourgeois, die fortgesetzt die Linke mit ihren Nazi-Vergleichen zu diskreditieren versuchen, den Spiegel vorzuhalten und ihnen nachzuweisen, daß es sich dabei nur um Projektionen ihrer eigenen Absichten handelt. Aber er führt zutreffend alle Elemente vor, die zu diesem rechten Projekt gehören, von der Wiedereinführung des Klassengesellschaft von rechts durch die Schrödersche Agendapolitik über das Merkelsche Durchregieren bis hin zum liberalen Nachtwächterstaat, den die FDP fordert (und der es dabei noch gelingt, sich als Partei der Bürgerrechte hizustellen) sowie dem Diktum Milton Friedmans: „… wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ – das auch mache 68er heute unterschreiben. Wäre sein Buch im laufenden Jahr erschienen, hätte er die Sloterdijksche Sozialstaatsdebatte und Westerwelles rechtspopulistische Eskapaden miteinbeziehen können. Er hat dazu aber schon in den „Blättern“ das nötige gesagt, unter Einbeziehung auch des (nicht aus der Partei ausgeschlossenen) Sozialdemokraten Sarrazin, der ebenfalls am rechten Rand weiterhin nach Wählerstimmen fischt.
Insgesamt ein sehr lesenswerter linker Text, nicht zuletzt weil er abschließend auch nachdrücklich auf eine wesentliche Ursache der fortwirkenden deutschen Teilung hinweist: 68 war ein „originär westliches Ereignis“, das die Ossies nur aus den Medien kannten. Auch dies ein weiterer tiefer Graben der Bonner wie nun auch der Berliner Republik.
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