Im Anschluß an meinen Beitrag über Albrecht von Luckes Essay zu „68“, drängt sich ein Zitat aus der heutigen Ausgabe der hr2-Sendung „Doppel-Kopf“ geradezu auf. Matthias Horx[1][2], den auch von Lucke in seinem Buch wohl zutreffend kritisch erwähnt, demonstriert im Interview mit seiner politischen Weggefährtin Cora Stephan geradezu bilderbuchhaft, was an der 68er Haltung auch heute noch attraktiv ist:
„… der Aufbruch in die Utopie, in das ganz Entfernte, in das Transzendente, und das verfolgt mich natürlich bis heute immer noch … [Angst und Zukunft] hängt natürlich beides miteinander zusammen. Die Zukunft macht immer Angst. Sie ist das Ungewisse. Sie ist das, was schiefgehen kann, in dem sich also etwas verschlechtern kann. Und wir wissen ja, daß gerade in Deutschland eben der größte Teil der Menschen sagt, es wird in Zukunft schlechter werden. Also, es gibt eine Gallup-Umfrage weltweit, wonach in praktisch allen Ländern ungefähr 80 Prozent der Menschen sagen, die Zukunft wird besser, also gerade in den bitterarmen Ländern, gerade in so Katastrophen jetzt, natürlich, sagen die Leute auch, es kann eigentlich nur noch besser werden, oder sie haben Hoffnungen, in Asien. In Deutschland sind es gerade mal eine Minderheit von 12 Prozent, die sagen, die Zukunft könnte besser werden. Also, es gibt – und das war eben anders als in unserer Jugend – es gibt keinen gesellschaftlichen Fortschrittsbegriff mehr. Und ich versuche heute auch in meiner bescheidenen Funktion als Zukunftsforscher auch diesen Fortschrittsbegriff zu verteidigen. Also, ich glaube, daß man Gesellschaft verbessern kann, daß man auch jetzt, und zwar nicht mehr in der utopischen Form der Überwindung, sondern in der evolutionären der Veränderung, und das ist gewissermaßen auch das gute Erbe, daß ich aus der Sponti-Zeit versucht habe mitzunehmen, nämlich die differenzierte Betrachtung von Verbesserung. Also, auch das Ernstnehmen menschlicher Gefühle in Richtung auf: Wir wollen ein besseres Leben! … Diesen Aufbruch, diesen Emanzipationsanspruch, den habe ich eigentlich nie aufgegeben, und der wird bei mir eigentlich immer kristalliner. Also, er wird auch immer hartnäckiger. Und ich lasse den Leuten das eben auch so leicht nicht durchgehen, daß sie sagen: Wieso? Wird sowieso alles den Bach runtergehen. … Wir sind doch alle ein Produkt unserer Enttäuschungen … Ich wil nicht so werden wie die Elterngeneration … Ich will eben nicht mit 30, 40 auf meine innere Lebenshaltungen festgelegt sein und genau wissen, wie die Welt ist, ich will weiterlernen, und das kann man nur durch Krise, oder? Also, ich zweifle jeden Tag daran, ob das, was ich tue, sinnvoll ist, und wenn ich damit aufhören würde, dann wäre es wahrscheinlich vorbei …“
Der Blick auf die konkrete Utopie ist auch mir sehr wichtig. Das helmutschmidtsche utopiefeindliche Diktum hiergegen war gegenaufklärerisch und destruktiv. Deshalb konnte ich auch den Hype, der um den ehemaligen Bundeskanzler gemacht wird, nie so richtig verstehen. Und das ist nun also der Gegenentwurf dazu: Ein Mensch auf der Suche, ein Wanderer auch er[3][4][5], ewig unfertig, aber ein Wanderer auch, der schon ziemlich in die Jahre gekommen ist. Und ein vergleichsweise komfortabler Wanderer. Der sich fragt, woher der allgemeine Pessimismus in der Gesellschaft komme, angesichts der allgegenwärtigen gelernten Hilflosigkeit, gerade im politischen Bereich, der allgemeinen apolitischen Stimmung, die durch Wahlenthaltung und Demobilisierung gekennzeichnet ist, anstelle von Aufbruch und Visionen. Die 68er hatten ja auch gut Revolution machen: Der öffentliche Dienst war aufnahmefähig und -willig. Akademikerarbeitslosigkeit: fast ein Fremdwort.
Ich frage mich, wie die heutige depressive Gesellschaft sich weiterentwickeln wird? Eine Gesellschaft, in der nichts dazu angetan ist, Mut zu machen, die von Abbau gekennzeichnet ist und von wasted lives. In der nur der Egoismus und die Ungleichheit zunehmen und in der die Armut wächst. In der Klientelpolitik zum Normalfall geworden ist. Deren Politiker Wahlen am ehesten noch dadurch gewinnen, daß sie rechtspopulistische Ressentiments schüren. Und in der insbesondere auch vom aufrechten Gang nachdrücklich abgeraten wird. In der es niemand mehr zu stören scheint, wenn ständig Menschen in fremden Mülltonnen herumwühlen, weil sie dies nötig haben.
Wie würde der Gegenentwurf zu diesem traurigen Bild aussehen? In der derzeitigen politischen Landschaft gibt es jedenfalls keinen, und es zeichnet sich auch nicht ab, wer ihn einmal gestalten könnte.
Zum Nachhören gibts das Gespräch als Podcast von hr2:
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