Ein Vulkanausbruch in Island hat seit etwa einer Woche zum weitgehenden Erliegen des Flugverkehrs in Europa geführt. Für Frank Schirrmacher geht mal wieder die Welt unter, weil die Algorithmen so mächtig geworden seien. Er interpretiert jetzt alles mit Blick auf die Thesen seines letzten Buches. So wird es zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung. Wenn man nur einen Hammer als Werkzeug hat, sieht eben jedes Problem aus wie ein Nagel. Ganz so einfach liegen die Dinge nämlich nicht. Ein F-16-Kampflugzeug sei mit Glas im Triebwerk von einem Testflug zurückgekehrt. Andererseits gab es einen Flug des DLR, bei dem durch Messungen festgestellt wurde, daß die Vulkanasche tatsächlich dort sei, wo man sie prognostiziert habe, Probleme traten beim Durchfliegen der Asche aber nicht auf. Nun legt die Journallie nach und befragt den Bundesverkehrsminister, berichtet der Spiegel: „Dann prasseln die Fragen auf Ramsauer ein: Würde er selbst in ein Flugzeug einsteigen, das durch die Aschewolke fliegt? ‚Ich werde nicht verantworten, was ich nicht selbst als Passagier tun würde.‘ Müssen sich die Passagiere nicht als Versuchskaninchen vorkommen? ‚Nein.‘ Aber was bitteschön macht die Wolke im Sichtflug weniger gefährlich als im Instrumentenflug, bei dem das Durchfliegen verboten ist? Ramsauer weicht aus: Nicht einmal Triebwerkbauer könnten definitiv sagen, bei welcher Aschekonzentration kein Flug mehr möglich sei. Es gehe darum, sich ‚auf verantwortbarer Basis ein Stück der Normalität zu nähern‘.“
Gemeint ist die Normalität der Gefährdungshaftung: Das Interesse des Betreibers einer gefährlichen Anlage (Eisenbahn, Auto, Atomkraftwerk, Gentechnik oder eben auch: Flugzeug) wird höher bewertet als das Interesse potentiell Geschädigter an ihrer körperlichen Unversehrtheit, weil man – liberal – sich vorstellt, von dem Nutzen, der hier gezogen wird, falle etwas auf den Rest der Gesellschaft ab. Komme es zum Schadensfall, sei alles in Geld kompensierbar. Weil die Schäden sich statistisch zufällig verteilen, sind sie versicherbar, soweit man die zu zahlende Summe von vornherein der Höhe nach beschränkt. Die Leitentscheidung hierzu war aus verfassungsrechtlicher Sicht BVerfGE 49, 89 zum sogenannten Schnellen Brüter in Kalkar. Das Urteil datiert aus dem Jahr 1978, das Bundesverfassungsgericht hat sich hierauf aber gerade jüngst wieder berufen, als es den Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegen den neuen Teilchenbeschleuniger LHC im Züricher CERN ablehnte, bei dem die Beschwerdeführerin geltend machte, es bestehe die Gefahr, daß bei den dort vorbereiteten kernphysikalischen Experimenten sogenannte Schwarze Löcher entstehen könnten. Das Gericht müsse den einzelnen nicht vor sozialadäquaten Gefahren schützen. Die diesbezüglichen Entscheidungen müsse zwar das Parlament treffen, sie unterfielen dem Vorbehalt des Gesetzes. Die Gerichte dürften sich hierin aber nicht einmischen, die zugrundeliegenden politischen Entscheidungen bei der Zulassung technischer Risiken oblägen dem Gesetzgeber.
So war der Tod in der technischen Moderne durch das Recht mithilfe von Geld verdrängt worden. Aber diese Lösung gehört tatsächlich ins Eisenbahn- und Autozeitalter. Den neuen Großrisiken kann man mit dieser veralteten Sicht nicht mehr gerecht werden. Mit seinem Beschluß zum Large Hadron Collider des CERN zeigt das Gericht, daß es weiterhin hinter dem Reflexionsniveau weiter Teile der Zivilgesellschaft zurückgeblieben ist.
Nichts Neues also zum sogenannten „Restrisiko“. Es ist sozusagen eine Art Antiquiertheit der Rechtsprechung.
Übrigens war der Umgang mit Technik heute auch Thema bei „hr2 Der Tag“, wo Frank Schirrmachers eingangs erwähnte Thesen sehr viel besser wegkamen als in meinem Blog:
hr2 Der Tag: „Gefangen in der Vernetzung – Wenn weltweite Systeme ausfallen“, ©hr2 2010.