I came, I broke, I entered

Die Meldung über den Tod Alan Sillitoes erinnert mich an die verspätete Lektüre seines bekanntesten Werks „The loneliness of the long-distance runner“ während der strafrechtlichen Station meines Referendariats. Wenn man wochenlang als Referendar beim Jugendrichter die Aussagen von jugendlichen Angeklagten und Zeugen sich anhören muß, ist es höchste Zeit nachzuholen, was einem im Englischunterricht in der Oberstufe zum Glück erspart geblieben ist. Sillitoe beschrieb, wie es war und ist. Die FAZ erinnert deshalb völlig zurecht an den sogenannten „kitchen sink“-Realismus. Kriminalität als Normalfall, als Alltag: „I came, I broke, I entered. … I didn’t think about anything at all, as usual, because I never do when I’m busy …“ Heutzutage steht so etwas zumindest in den besseren Lehrbüchern zur Kriminologie, aber bis zu den Straftheoretikern hat es sich meist immer noch nicht herumgesprochen: Die Rechten träumen immer noch vom höheren Strafmaß, wenn sie über rechtspolitische Maßnahmen gegen die Kriminalität nachdenken. Die Praktiker bei Gericht und Staatsanwaltschaft dagegen waren Realisten, insoweit Sillitoe recht ähnlich. Und als ich dann am Ende der Station in unserer Arbeitsgemeinschaft das Referat zum Thema „Die Jugendkriminalität und die Besonderheiten der Jugendstrafrechtspflege“ hielt, zog ich die Verachtung meiner mehrheitlich rechtslastigen Kolleginnen und Kollegen auf mich, die kein Verständnis dafür hatten, daß ich meinen Vortrag in Anlehnung an die Kriminologie Klaus Lüderssens unter die Überschrift „Kriminalität und Kriminalisierung“ stellte. War wohl auch zuviel verlangt. Was bleibt, ist eine gewisse Leere, wie immer, wenn ein Großer geht: „Where are all the angry young men now?“

Wieder veröffentlicht am 29. April 2010 im Blog des Arbeitskreises zur Kritik des Strafvollzugs (AkS) e.V., Münster.

Werbung

Nachdenken über den Fahrradwärter am Bahnhof

In der „Sternstunde Philosophie“ des Schweizer Fernsehens hat sich vor einer Woche Roger de Weck mit Walter Schmid, dem Präsidenten der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe und Rektor der Luzerner Hochschule für soziale Arbeit, über die Zukunft des Sozialstaats unterhalten. Dabei ist ein ausgesprochen hörenswertes Gespräch herausgekommen. Ein bürgerlicher Diskurs über den Vertrauensverlust durch die Sozialreformen der letzten Jahre, die ihren Namen zu Unrecht tragen, nicht nur in Deutschland. Auszüge:

„… Die soziale Infrastruktur eines Staatswesens kann man durchaus vergleichen mit anderen Infrastrukturen, die eine moderne Gesellschaft braucht. … Es hat mich eigentlich immer überrascht, daß man immer nur von Lasten spricht. Und wenn man einen Tunnel baut, ist das eine Investition. … Dieses Denken ist für mich eigentlich widersprüchlich. Wir sollten auch soziale Leistungen sehen als eine Investition in eine Gesellschaft, die eben darauf angewiesen ist. …“

Und am Ende:

„… Die Trennung der Gesellschaft in solche, die Arbeit haben, und solche, die keine Arbeit haben, kommt die Gesellschaft auch ziemlich teuer zu stehen. … Wie effizient ist eine sogenannte ‚effiziente Gesellschaft‘? … Wenn ich mein Fahrrad am Bahnhof einstelle, dann ist dort ein Beschäftigungsprogramm damit beschäftigt, mein Fahrrad entgegenzunehmen und zu hüten, den Tag durch, zu bewachen, und ich kann es dann wieder holen. Da wurde mir dann erzählt, daß eigentlich die [Schweizerische Bundesbahn] früher diesen Dienst angeboten habe. Da gab es Bähnler in Uniform, die taten eben gerade das: Die nahmen die Fahrräder der Bahnkunden entgegen am Morgen, wenn die aus der Fabrik zurückkamen mit der Bahn, dann haben sie ihr Fahrrad wieder bekommen. Damals waren das Angestellte der Bundesbahn. Die hatten eine Uniform, die waren Teil der workforce, die waren integriert. Natürlich waren das nicht Top-Jobs, aber sie waren klar Angestellte des Bundesbetriebes. Und heute wird die identische Tätigkeit wahrgenommen von Programmteilnehmern der Sozialhilfe, die dann für sechs Monate, gewissermaßen, diese Aufgabe machen. Im einen Fall waren diese Lohnkosten irgendwie im Betrieb integriert. Heute sind sie im Sozialbudget einer Stadt integriert. Von der Wertschätzung her, die die Leute hätten, von der Anerkennung, die sie haben, wäre es natürlich besser, sie wären irgendwo normal angestellt als in einem Programm. Auch in ihrer eigenen Wahrnehmung sind sie, wenn sie in einem Beschäftigungsprogramm sind, eben eigentlich Verlierer, die man jetzt noch beschäftigen muß. Sie haben nicht dasselbe Selbstwertgefühl wie damals die Bahnangestellten, die das noch im Betrieb gemacht haben. …“

Das ist die bekannte Milchmädchenrechnung, die daran erinnert, worum es eigentlich geht. Und in Richtung der rechtspopulistischen Westerwelle-FDP-Richtung gewandt:

„… Und das übelste daran ist eigentlich, daß es keine klaren Signale gibt, daß die oben, die viel verdienen, effektiv bereit sind, auch Verantwortung zu übernehmen für die Gesellschaft und für die, die weniger gut situiert sind. …“

Das Gespräch kann noch drei Wochen online angehört werden.

© Schweizer Fernsehen 2010.

Facebook is a closed shop VIII

„Hat sich ein Nutzer erst einmal mit seinen Freunden, Kollegen und Geschäftspartnern vernetzt, gibt es auf der Facebook-Startseite immer etwas zu tun … Und so schaut der Surfer zu Beginn einer Internet-Sitzung nicht mehr zuerst bei Spiegel online oder Google News nach, was es Neues gibt, sondern in der Timeline seines sozialen Netzes mit den Neuigkeiten aus dem Freundes- und Kollegenkreis. Und lässt sich seinen Weg durchs Netz nicht mehr von Google zeigen, sondern von seinen Bekannten beim Netzwerk-Dienst“, schrieb Jo Bager in c’t 7/2010. Diesen Rückzug in die eigene Timeline könnte man auch als eine neue Art von Biedermeierlichkeit beschreiben, als einen Rückzug ins Private der eigenen „Kontakte“, denen mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als den Massenmedien Presse und Rundfunk. Das gilt gerade auch, wenn deren RSS-Feeds übers soziale Netz mitgelesen werden, weil deren Inhalte dann eben nur indirekt zur Kenntnis genommen werden, der unmittelbare Konsum entfällt. Nicht mehr die Tagesschau ist das Leitmedium, sondern das jeweilige soziale Netzwerk, das einen Inhalt transportiert, der von der „Tagesschau“ stammt und sich so nennt. Die eigentliche Tagesschau besteht in der Timeline des jeweiligen Nutzers, sie betrachtet er, und sie setzt sich für jeden anders zusammen, wobei private Inhalte in der Regel dominieren werden.

In Wikipedia schreiben II

Der SPIEGEL hat in einem längeren Beitrag die gruppendynamischen Prozesse beschrieben, zu denen es im Wikipedia-Projekt immer wieder kommt. Am Beispiel der umfangreichen Diskussion um den Artikel Donauturm wird anschaulich, wie Beiträge für die Wikipedia entstehen und wie die meist leider mehr verklärte als verstandene Schwarmintelligenz in der Praxis funktioniert: In langwierigen Diskussionen zwischen solchen, die sich auskennen, und bloßen Besserwissern wird um einen vertretbaren Inhalt gerungen. Das ist oft mehr ein Diskussionsergebnis als eine Wahl zwischen „Richtig“ und „Falsch“.

Der SPIEGEL-Artikel ist hervorragend recherchiert, und er beschreibt ausführlich, was jeder, der lange genug an Wikipedia mitschreibt, aus eigener Erfahrung kennt. Die Gruppendynamik, die man dort beobachten kann, schwankt beständig zwischen Wissenschaft, gutem wikipedianerischem Handwerk und „ganz großem Kino“. Und trotzdem, auch das wird beschrieben, bleibt man dabei und nimmt weiterhin an dem Projekt teil. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Problematisch ist es, daß ausgerechnet Henriette Fiebig wegen ihrem Statement, mit dem sie zitiert wird, insoweit nun angegriffen worden ist, wo sie die einzige war, die in der Diskussion, um die es ging, wissenschaftlich gearbeitet hatte: Sie hat Quellen herangezogen, hat sie gelesen und dies in die Diskussion wieder einfließen lassen. Wahrscheinlich hätte ich mich an der Stelle gewählter ausgedrückt als: „Du kriegst natürlich irgendwann auch einen Hass auf so jemanden, du denkst: Ich will dem das Maul stopfen“, aber wenn man es dann tatsächlich besser weiß als andere, kann man es jemand nicht verdenken, daß er wütend reagiert, wenn es diese anderen nicht zur Kenntnis nehmen wollen, und man sich dann weiterhin mit deren Ignoranz auseinandersetzen muß. C’est la vie.

Ergänzter und bearbeiteter Text. Posting in der Mailingliste VereinDE-l, 23. April 2010.

Alice Miller ist gestorben

Die Psychoanalytikerin Alice Miller, die Autorin des Buches „Das Drama des begabten Kindes“, ist bereits am 14. April 2010 gestorben, hat der Suhrkamp-Verlag heute mitgeteilt. Ihr wahrscheinlich bekanntestes Buch mit dem eingängigen Titel hatte mich auch vor ca. 15 Jahren sehr beeindruckt, obwohl ich den Zusammenhang von Narzißmus und Depression schon vorher aus dem Studium kannte. Einige Zeit zuvor hatte ich die Einführung in die Psychoanalyse in Frankfurt bei Frau Rohde-Dachser gehört, das alles war mir also schon ein Begriff. Miller hat diese Zusammenhänge aus ihrer therapeutischen Praxis heraus aber noch einmal ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Ich fand es sehr schade, daß sie danach eher ins psychoanalytische Außenseitertum abgedriftet ist.

Die Wolke, die Stille II

Nachtrag: Der Hessische Rundfunk berichtet über die Ergebnisse der Lärmmessungen rund um den Frankfurter Flughafen während des gerade abgelaufenen Flugverbots:

„In der vergangenen Woche registrierten die Messstationen seit Freitagmorgen acht Uhr eine relative Ruhe. Horst Weise, der Vorsitzende des Fluglärmdienstes, war sehr überrascht von der Auswertung der Daten: Nach seinen Berechnungen macht der Fluglärm an einer repräsentativen Messstation 90 Prozent aus.“

Das deckt sich leider mit meinem Eindruck.