Zu den anrührendsten Texten von Ror Wolf gehört für mich der Auftakt zu seiner „siebenundvierzig Ausschweifungen“ untertitelten Sammlung „Zwei oder drei Jahre später“, die 2003 bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschien: „Vorgänge im Gebirge“. Die Parabel handelt von einem Geiger, der in einem Wirtshaus gebeten wird zu geigen, und der daraufhin erzählt, daß er dies nicht könne, weil er seine Geige „vergessen oder vielmehr verloren habe“, als er durchs Gebirge gegangen sei. Wegen des hoch liegenden Schnees habe er es damals nicht bemerkt, als sie hinabgefallen sei. Erst als er danach in einem Wirtshaus aufgefordert worden sei zu geigen, habe er es „entdeckt, daß er gar keine Geige mehr hatte“. Und „vor allem deshalb sei er ein unbekannter Geiger geblieben, und zwar sein Leben lang.“
Der Text konfrontiert den Leser mit der Frage, was denn wohl seine Geige gewesen sein mag, die ihm bei seinem Gang durch sein Gebirge vor langer Zeit abhandengekommen ist. Dabei ist dies keine bloße Möglichkeit, sondern Notwendigkeit: Der Text geht sicher und ohne Wahl davon aus, daß „der Mann“, dessen Name dem Autor „beim besten Willen nicht einfallen will“, nicht unbeschadet durchs Gebirge wandern konnte. Und dieser Verlust hat eine erhebliche Bedeutung für die weitere Biographie dieses Mannes, des „unbekannten Geigers“.
Ist ein Geiger ohne Geige denn überhaupt noch ein Geiger? Man denkt an das „Reitergedicht“ von Robert Gernhardt: „‚Sag mal, Reiter!‘ ‚Ja, was ist?‘| ‚Wie kommt’s, daß Du alleine bist?| Wo ist Dein Pferd?‘ …“ Ist der Reiter ohne Pferd noch ein Reiter? Oder ist er ohne das Objekt, von dem er seinen Namen herleitet, allein ein Namenloser und Unbekannter, der sich bloß noch daran erinnern kann, daß er früher einmal geigte oder ritt? Immerhin bezeichnet der Autor den Geiger nicht als einen ehemaligen Geiger, er beläßt es dabei, der seinerzeit unbemerkte Verlust des den Geiger definierenden Objekts sei für diesen lebenslang gekennzeichnend gewesen.
Ror Wolf hat dem unbekannten Geiger, der seit dem Bewußtwerden seines Verlusts immer wieder in Wirtshäuser gegangen ist, wo ihm eben dieser Verlust, der sein dauerndes soziales Unvermögen zur Folge hat, immer wieder erneut bewußt wird, ein Denkmal gesetzt.