Heute abend bin ich auf die heutige Pressemitteilung des Sozialgerichts Berlin hingewiesen worden, die ich unkommentiert und ungekürzt weitergeben möchte:
„Heute Morgen (18.06.10) ging am Sozialgericht Berlin das 100.000. Hartz IV Verfahren ein. Die Klägerin und der Kläger sind Lebensgefährten. Sie klagen gegen eine Rückforderung des Jobcenters Treptow-Köpenick in Höhe von 202 Euro. Das Jobcenter fordert für April bis August 2009 teilweise ALG II zurück, da die genaue Höhe des anzurechnenden Einkommens erst nachträglich bekannt geworden sei. Der Kläger erzielt wechselndes Einkommen aus einer Tätigkeit in einem Sicherheitsdienst. Die anwaltlich vertretenen Kläger tragen vor, der Rückforderungsanspruch sei nicht nachvollziehbar. Sie hätten alle Einkommensnachweise regelmäßig eingereicht, für Berechnungsfehler des Jobcenters seien sie nicht verantwortlich.
Das Verfahren markiert den vorläufigen Höhepunkt einer immer dramatischer wachsenden Klagewelle. Es erreicht das größte Sozialgericht Deutschlands rascher als erwartet: Gut 3 ½ Jahre dauerte es, bis im August 2008 die ersten 50.000 Hartz IV Verfahren am Sozialgericht Berlin gezählt wurden. Die zweiten 50.000 sind nun schon in weniger als 2 Jahren erreicht. Inzwischen geht beim Sozialgericht Berlin alle 16 Minuten ein neues Hartz-IV-Verfahren ein.
Im ersten Jahr der Sozialreform (2005) registrierte das Sozialgericht Berlin rund 7000 Hartz IV-Verfahren (ALG II – SGB II – und Sozialhilfe – SGB XII – zusammengerechnet). 2009 waren es bereits 27.000 Neueingänge – fast viermal so viel. 2010 setzt sich dieser Anstieg verstärkt fort: Allein in den ersten 5 Monaten verzeichnete das Sozialgericht Berlin 35 % mehr Hartz IV-Klagen und Eilverfahren als im Vergleichszeitraum 2009 (Januar bis Mai 2010: 13.553; Januar bis Mai 2009: 9902).
Parallel hierzu wächst der Berg der unerledigten Verfahren, obwohl die Erledigungszahlen des Gerichts im Bundesvergleich mit an der Spitze liegen. Ende Mai 2010 verzeichnete das Gericht bereits 38.020 offene Verfahren. Betroffen sind nicht nur die Hartz-IV-Fälle, sondern auch die anderen Arbeitsgebiete des Gerichts, z. B. Renten- und Krankenversicherung. Längere Verfahrensdauern sind nicht auszuschließen.
Ein Ende dieser besorgniserregenden Entwicklung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil. Sollte das geplante Sparpaket der Bundesregierung zu Einschnitten in Hartz IV führen, ist erfahrungsgemäß mit noch mehr Klagen gegen Jobcenter und Sozialämter zu rechnen.
Kein Gesetz hat das Berliner Sozialgericht so verändert wie die Hartz IV Reform. Die Zahl der Richter hat sich seit 2005 verdoppelt. Wo früher die Gerichtskantine lag, befinden sich heute Büros. Aus dem Archiv wurden 400.000 Akten ausgelagert – um Platz zu schaffen für Hartz IV. Zurzeit sind 115 Richterstellen besetzt. Rechnerisch gesehen bearbeiten 66 Vollzeitrichter ausschließlich Hartz IV Verfahren.
Hauptstreitpunkte sind nach wie vor die vom Gesetz offen gelassene Frage, welche Unterkunftskosten die Ämter zu tragen haben, die Rückforderung zuviel gezahlter Leistungen, die Einkommensanrechnung und die Verletzung von Bearbeitungsfristen durch die Jobcenter (Untätigkeitsklagen).
Rund die Hälfte der Kläger erzielt dabei vor Gericht zumindest einen Teilerfolg – in anderen Rechtsgebieten liegt die Erfolgsquote deutlich niedriger.
Zur Entlastung der Sozialgerichte beitragen könnte eine weitere Verbesserung der Funktionsfähigkeit und Kundenorientierung der Jobcenter. Zahlreiche Klagen wären vermeidbar, wenn Bescheide bürgerfreundlicher formuliert wären oder Betroffene und Behörden vor Einschaltung des Gerichts ein klärendes Gespräch führen würden.“
Forenbeitrag, Xing-Gruppe Sozialrecht, 18. Juni 2010.