Ein Leben im Konjunktiv

Der Lebenslauf einer Bewerbung verhält sich zum wirklichen Leben ungefähr so wie eine Badewanne zum Amazonas. Das Mantra der „Personaler“, ein Lebenslauf solle vor allem „lückenlos“ und „vollständig“ sein, ist schon deswegen abwegig, weil auch ein vollständiger beruflicher Lebenslauf, wie man ihn bisweilen bei Xing-Profilen bewundern kann, mehr Fragen offenläßt als beantwortet. Letztlich ist es nämlich völlig belanglos, welchen Tätigkeiten jemand in welcher Reihenfolge angeblich nachgegangen sei. Sehr viel interessanter ist es, welche Aufgaben jemand gerne ausgeübt hätte, zu denen es aber nicht gekommen ist, weil seine Bewerbung darum erfolglos geblieben ist.

Auch bei den erfolgreichsten Bewerbern scheitern die allermeisten Versuche. Das ist unvermeidbar, denn der „Ausgleich am Arbeitsmarkt“, wie man so etwas im Arbeitsförderungsrecht zu nennen pflegt, funktioniert schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Wer das einmal selbst erlebt hat, kann sich über die Meinungsmache, die in den Massenmedien wegen eines angeblichen „Fachkräftemangels“ alle paar Monate gemacht wird, nur wundern.

So entsteht nach und nach bei allen eine Erwerbsbiographie, die genaugenommen alle Elemente des Blochschen Hoffens enthält: Man hat sie noch nicht, sie wird erst noch. Sachdienliche Hinweise werden stets gern entgegengenommen. Es ist ein Lebenslauf im Konjunktiv: Wie die Perlen an einer Kette, reihen sich im Laufe der Jahre die vielen Möglichkeiten aneinander, was man alles hätte werden können, worum man sich nicht alles beworben hatte, wenn, ja, wenn es denn geklappt hätte oder nicht etwas ganz anderes dazwischengekommen wäre. Der Zufall markiert hier etwas ganz anderes als zu früheren Zeiten. Der Zufall ist kein Verhinderer, sondern eher ein Ermöglicher von Beschäftigung. Er markiert die Ausnahme von der Erfolglosigkeit, die die Regel ist.

Und in den schönsten Momenten denkt der Bewerber an Camus‘ Sisyphos, der unermüdlich am Scheitern arbeitet. Oder an Samuel Becketts Diktum: „Fail again. Fail better.“ Oder an den Kranich, auf dem der Unsterbliche dem Tao zufolge gen Himmel reitet. Und er denkt an Lao-tse: „Könnten wir weisen den Weg,| es wäre kein ewiger Weg.“

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