Lesetip: Gesellschaftlicher Wandel, Agenda 2010 und die Gründe, die einem politischen Wechsel entgegenstehen

Anne Lenze referiert in ihrem Beitrag „Abschied von der Solidargemeinschaft“, der in der Kritischen Justiz 2010, 132 ff. erschienen war, zunächst knapp und doch wissenschaftlich umfassend die Hintergründe für den Abbau des sozialen Schutzes in der Sozialversicherung, der schon Mitte der 1990er Jahre einsetzte: Den Paradigmenwechsel, der in einer Ausrichtung der deutschen Sozialpolitik an den Vorstellungen von EU-Kommission und Weltbank lag. Den Demokratieverlust, der darin zu sehen ist, daß der Kapitalstock für die Altersvorsorge zunehmend in die Hand der Banken und der Versicherungen anstelle der öffentlich-rechtlich verfaßten Rentenversicherungsträger gelegt worden ist. Die Rolle des Lobbyismus bei der rot-grünen Agenda 2010. Die zunehmende Schieflage der Einkommens- und Vermögensverteilung als Folge dieses Prozesses. Schließlich die fortschreitende Verarmung der Ärmsten durch den Umstieg vom Warenkorb- zum Statistikmodell bei Sozialhilfe und Hartz IV bei gleichzeitiger Weigerung, einen allgemeinen Mindestlohn einzuführen, während die Mittelschicht durch die regressive Finanzierung der Sozialversicherung leidet. Ein politisches Umsteuern täte not, nicht nur um der Menschen willen, sondern auch um die Fundamente der demokratischen Grundordnung zu wahren:

„Deshalb sind Konzepte solidarischer Umverteilung offensiv einzufordern. Ein wichtiges Element ist die universale Bürgerversicherung, die alle Bewohner und alle Einkommensarten in die Soziale Sicherheit einbezieht. Die Realisierung dieser solidarischen Lösung steht jedoch vor hohen Hürden: Selbst wenn verfassungsrechtliche Hindernisse sogar in der Rentenversicherung grundsätzlich überwindbar sind, so sind derzeit die politischen Akteure nicht zu erkennen. Seitens der SPD besteht die Schwierigkeit, für das geltende Drei-Säulen-Paradigma verantwortlich zu sein, und in Kreisen der LINKEN und der Grünen wird über das Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens gestritten. Bei den Gewerkschaften schließlich herrschen noch die semantisch bedingten Täuschungen von Sozialpartnerschaft, paritätischer Finanzierung und Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger.“

Ein ausgesprochen lesenswerter Beitrag, der angesichts der derzeitigen Kuhhändel um die Leistungen für Hartz-IV-Bedürftige und um die schwarz-gelbe Gesundheitsreform auch weiterhin sehr aktuell ist. Anne Lenze lehrt an der Hochschule Darmstadt.

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Ein Gedanke zu „Lesetip: Gesellschaftlicher Wandel, Agenda 2010 und die Gründe, die einem politischen Wechsel entgegenstehen“

  1. Wirklich sehr lesenwert, diese großen Linien der Sozialpolitik gehen im allgemeinen politischen Alltagsgeschwätz vollkommen unter. Danke für die Leseempfehlung.

    Wenn ich es richtig sehe, orientiert sich die Neuberechnung der Regelsätze inzwischen sogar nur noch an den durchschnittlichen Ausgaben der unteren 15 Prozent der Einkommen (früher 20 Prozent), ein ziemlich billiger statistischer Trick.

    Was heute fehlt, ist eine offensive politische Diskussion über Umverteilung von oben nach unten (und deren Grenzen natürlich, so halte ich beispielsweise in der Krankenversicherung das Solidarprinzip nicht für unendlich ausdehnbar). In den letzten Jahren hat (ohne dass es ausgesprochen worden wäre) genau das Gegenteil stattgefunden. Das setzt voraus, dass die SPD den Weg von Schröder und Clement endlich verlässt und wieder zur Verteidigerin eines starken (Sozial-)Staats wird. Sonst wird das nichts. Besonders optimistisch bin ich wegen der Yuppiesierung der Partei allerdings nicht, obwohl angesichts der tiefen Verunsicherung der Mittelschicht dafür alle Chancen bestünden.

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