Opportunismus

Wer vor einer Woche behauptet hätte, die schwarz-gelbe Bundesregierung werde kurz vor zwei Landtagswahlen erklären, die alten AKWs in Neckarwestheim und in Biblis würden abgeschaltet, wäre nicht ernst genommen worden. Man hätte ihm utopisches Wunschdenken vorgeworfen und ihn in die äußerste linke Ecke gestellt. Dann kam ein gewaltiges Erdbeben in Japan, und seit drei Tagen läuft zum ersten Mal seit 1986 der atomare Tod wieder über die Ticker. „Experten“ diskutieren „Grenzwerte“. Und Zigtausende demonstrieren gegen die Atomkraft. Den Grünen laufen die Wähler zu. Und nun sei alles ganz anders, sagt die Bundesregierung. Die „sicheren“ deutschen Atomkraftwerke müßten nun noch einmal überprüft werden. Mit einem so schweren Erdbeben, nach dem auch die Notstromaggregate ausfallen können, habe ja bisher keiner gerechnet. Und es sei ohne weiteres möglich, beispielsweise das AKW Neckarwestheim I noch vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg am 27. März 2011 abzuschalten, schreibt heute abend die FAZ.

Ob diese überaus opportunistische Rechnung aufgeht? Immerhin zeigt die Reaktion der Politik und das auffallend deutliche Schweigen der Atomlobby, daß man Angst hat vor weiteren Protesten. Nach Stuttgart 21 wäre es die zweite große Bewegung, die aus dem Mittelstand heraus für konservative Werte einträte, und das ganze nicht online, sondern ganz konventionell auf der Straße. Man versucht hier mitnichten, seinem verfassungsmäßigen Diensteid zu genügen, indem man eine Technik, die keinen Fehler verzeiht und die äußerst hohe Risiken bereithält, verbietet und mangels kurzfristiger Alternativen in ausreichender Menge über mehrere Jahre auslaufen läßt. Wenn das alles so gefährlich ist, hätte man es schon längst tun können, tun müssen, wollte man aber nicht. Weil die Atomlobby hinter dieser Regierung steht. Weil sie sie mitfinanziert und ihren Wahlkampf mitgeführt hatte. Das Volk, der große Lümmel verstehe das alles nur nicht. Man wisse es besser, hieß es die ganze Zeit über. Und nun das.

Der Kaiser ist nackt, nackter geht es nicht mehr. Aber wer sagt es ihm? Und wer wählt ihn nun ab, Wahl für Wahl, einschließlich der nächsten Bundestagswahl 2013? Der Weg bis dorthin ist lang. An mir soll es nicht liegen. – Empört Euch!

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8 Kommentare zu „Opportunismus“

    1. Und wir sind nicht die einzigen, die es ihnen vorhalten. Ich habe seit gestern abend viele kritische Seitenhiebe gehört, auch in Massenmedien, bis ins Kulturprogramm hinein. Bin deshalb gespannt, wie es weitergeht. Es ist der Versuch, den Kopf aus der selbstgeknüpften Schlinge „Atomenergie“ zu ziehen. Und ich glaube nicht, daß die Wahlen deshalb verloren gehen werden. Fefe schrieb heute, Merkel umgebe sich mit Mappus und Bouffier, weil sie zwischen den beiden Unsympathen noch die ansehnlichste Figur machen könne… in drei Monaten sieht alles anders aus. Merkel als Ausstiegskanzlerin? Unterstützt durch die FDP, die sich ebenfalls vor dem Abgleiten in die politische Bedeutungslosigkeit retten will? Kaum vorstellbar. Alles in allem, gerade angesichts der schlimmen Umstände, ein Schmierentheater, das nun tatsächlich an spätrömische Dekadenz denken läßt!

  1. Angesichts dieser Katastrophe hatten sie kaum eine andere Wahl als eine 180° Wende zu machen…ich hoffe nur das kaufen ihnen nicht allzu viele ab, aber zumindest zur Zeit sieht es nicht so aus.
    Würde mich interessieren was im Moment ein Politbarometer so aussagen würde…hab leider nirgends ein aktuelles finden können…

  2. Hhm, mal abgesehen von der staatsrechtlichen Unschärfe des »Moratoriums« machen Merkel & Mappus gerade das, was Schröder & Fischer nicht geschafft haben: Atomkraftwerke dauerhaft abschalten. In der tatsächlichen Konsequenz bleibt das nicht hinter dem rot-grünen Atomkonsens zurück, im Gegenteil. Die Opposition hat denn auch deutliche Schwierigkeiten, eine radikalere Forderung aufzustellen, die Abschaltung aller Atomkraftwerke verlangen sie nicht (Ausnahme ist die Linke), noch nicht einmal die vorübergehende Abschaltung.

    Merkel ist Machtpolitikerin. Ich glaube, wir werden uns noch wundern, wie stark ihre Wende in diesem Punkt wird, zumal sie Gelegenheit hat, der öffentlichen Meinung nachzugeben und eine unpopuläre Entscheidung zu korrigieren.

    PS: Ich hoffe so sehr, dass die japanischen Mitarbeiter vor Ort, die gerade ihr Leben aufgeben, das Allerschlimmste noch verhindern können.

    1. Die Haltung von CDU/FDP ist trotzdem indiskutabel, denn sie ist durch und durch unglaubwürdig. Es geht ja nicht nur um das Ergebnis („… was hinten rauskommt …“), sondern auch um die politischen Positionen dahinter. Das Gesetz zur Laufzeitverlängerung stammt vom Oktober 2010. Es sind heute dieselben AKWs wie damals. Es geht ganz schlicht darum, die nächsten Wahlen zu gewinnen und von der unsozialen Politik abzulenken. Dazu ist der Ex-Umweltministerin Merkel sogar das Atomthema recht. Und nun dies, zumal es nur ein „Moratorium“ ist, von Ausstieg keine Rede. „Ergebnisoffen“ soll das alles laufen, sagte Mappus ausdrücklich. Und Inkonsequenz ist geradezu der Markenkern von Rot, aber auch von Rot-Grün, es will also nichts heißen, wenn sie bei ihren Forderungen hinter dem Optimum weit zurückbleiben.

      Völliges Umdenken ist notwendig. Vor einem Monat war ich an einer hessischen Schule, an der demnächst alle Kreidetafeln gegen „interaktive Whiteboards“ ausgetauscht werden. Der Vertretungsplan läuft dort über Fernseher ins Lehrerzimmer und zu den Schülern. Ich selbst hielt meinen Vortrag mit Beamer, jeder Schüler saß an einem eigenen Rechner. Natürlich kostet das mehr Energie als Kreide und Schwamm. Von Livestream plus Webradio und Plasmabildschirm im Vergleich zu Transistorradio und Röhrenfernseher ganz abgesehen. Klimaanlagen. Computer und Internet allüberall. Praktisch jedes Telefon mit Basisstation, Anrufbeantworter und – Netzteil. Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose. Da fängt es an.

      Vorhin kam ein Beitrag auf hr-info: Die hessischen Unternehmerverbände und der hessische DGB werden demnächst ein Gespräch mit Bouffier führen – hessische Unternehmer und „die hier beschäftigten Menschen“ (DGB) sollen auch in Zukunft auf billigen Atomstrom zurückgreifen können.

      Mathias Richling sagte schon in den 1980ern: „Atom??? Ich hab noch keins gesehn!“

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