Nicht nur in New York, auch in der Schweiz gibt es noch Richter, die es mit der Werbeplattform Google aufnehmen, die ihr Geld unter anderem bekanntlich mit dem Betrieb einer Internet-Suchmaschine verdient. Die Auflagen für den Schnüffel-Dienst Streetview klingen plausibel: „… ausnahmslos alle Gesichter und Autokennzeichen unkenntlich machen … im Bereich ‚sensibler Einrichtungen‘ – etwa bei Frauenhäusern, Gefängnissen, Schulen, Gerichten, Sozialbehörden und Spitälern – vollständige Anonymität hergestellt werden müsse. Dazu solle Google neben dem Gesicht auch weitere individuelle Merkmale wie Hautfarbe oder Kleidung unkenntlich machen. Unzulässig ist laut Gericht zudem der Einblick in Höfe und Gärten, deren Anblick einem ‚normalen Passanten‘ verschlossen bleiben würde. …“ Alles Punkte, die auch von den Google-Kritikern in Deutschland schon seit langem diskutiert worden sind. Angeblich hierzulande gerichtlich nicht durchsetzbar. Grenzen des Datenschutzes, der Privatsphäre seien erreicht, heißt es. Alles sei öffentlich. Aber das öffentliche Leben, das sich auf der Straße abspielt, ist eben etwas anderes als das abphotographierte öffentliche Leben, das mit Geotags versehen und durchsuchbar weltweit vorgeführt wird. Die Privatsphäre und das persönliche Umfeld der Menschen werden googlebar gemacht. Und manche denken, was die Folgen angeht, weiter als andere. Es taucht eine Behauptung wieder auf, die Google mir auf der letzten Frankfurter Buchmesse ebenfalls entgegengehalten hatte: Man handele „… nicht [aus] finanzielle[n] Interessen, ‚sondern wir stehen für Innovation ein und für die Vorteile, die Street View der Schweiz bringt‘ …“, heißt es in dem Bericht bei der taz. Wenn die Grundrechte noch nicht einmal vor den erwähnten sensiblen Einrichtungen gewahrt werden sollen, wo denn dann überhaupt noch? Derweil rollen hierzulande schon die nächsten Photoautos, nämlich von der Konkurrenz Bing (aka Microsoft).
Archiv für den Monat Mai 2011
Nachlese

Halb und halb
Die ärmere Hälfte im armen Bremen ist also zuhause geblieben. Sie war – wie auch anderswo – nicht dazu zu bewegen, an der gestrigen Wahl zur Bremer Bürgerschaft teilzunehmen.
Erneut: Es gibt kein Fünf-Parteien-System, sondern ein Sechs-Parteien-System in Deutschland, und das Ergebnis zeigt, daß die mittleren Schichten und die Besserverdienenden zunehmend den Kuchen unter sich aufteilen und auch, daß ihnen das gar nichts mehr ausmacht. Die schlechte Wahlbeteiligung ist ein Anzeichen für die soziale Spaltung der Gesellschaft.
Wer aus dem Abwandern der Wähler in das Lager der Nicht-Wähler keine Konsequenzen zieht, höhlt die Demokratie aus, entzieht ihr sehr nachhaltig, langfristig und gründlich den Boden und bereitet antidemokratischen Richtungen ein Betätigungsfeld. Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Wahlbeteiligung und der Sozialpolitik: Wem die ökonomische Teilhabe versagt bleibt, der steigt aus der politischen Teilhabe aus. Wer ist in diesem Bild der Biedermann und wer der Brandstifter?
Die bürgerliche Gesellschaft als Potemkinsches Dorf
Die Schule emuliert mit ihrer inszenierten Konkurrenz qua Notengebung immer mehr eine bürgerliche Gesellschaft, die es schon lange nicht mehr gibt. Glück, Beziehungen und das Geld der Eltern entscheiden über alles weitere, nicht strahlende Zeugnisse oder unbefleckte Lebensläufe.
Kommentar in der Sammelmappe, 22. Mai 2011.
Stéphane Hessel, Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit im Schauspiel Frankfurt
Das Schauspiel Frankfurt war schon lange ausverkauft. Schon zum Ende der ersten Woche des Vorverkaufs waren über drei Viertel der Karten vergeben. Volles Haus, und es war ein buntes Völkchen, das sich da am Sonntagabend zusammengefunden hatte, mit Sack und Pack waren einige gekommen, manche auch mit Anti-AKW-Buttons am Rucksack, man zeigt wieder Flagge, die Frankfurter mögen ihre Taschen nicht an der Garderobe abgeben, viele tragen alles bei sich, was mitunter ein bißchen rustikal aussieht, aber die meisten kamen doch im feinen Tuch gewandet, grüner Chic dominierte. Man kann ohne Übertreibung sagen: Frankfurts bessere Gesellschaft stand Schlange um Restkarten, und beim Betrachten der Szene mußte ich an Enzensbergers „Kurze Geschichte der Bourgeoisie“ denken: „Wolken,| die Ich sagten.“
Vor dem Eingang verteilte ein bieder gekleideter älterer Herr ein achtseitiges Pamphlet, in dem er sich sprachlich wenig gewandt mit der Entwicklung der Grünen auseinandersetzt, „aus katholischer Sicht“ sei es verfaßt, sagt er, und in den Massenmedien werde man seinen Standpunkt vergeblich suchen, auch der Hessische Rundfunk habe Beiträge von ihm abgelehnt, obgleich er sie mehrfach angeboten habe. Passanten nehmen den gefalteten Computerausdruck gerne mit nach drinnen, „bis gestern abend“ habe er daran geschrieben, nun sei er endlich fertig, der Text, der sich über „die grünen Gutmenschen“ und „Oberlehrer“ empört. Er habe das alles in Wikipedia recherchiert. An den Angaben habe er keinerlei Zweifel. Er sei im Recht. Anderswo könne man sowas – gegen Abtreibung und Windräder, für Sarrazin und mehr deutsche Babys – nur noch bei dem Portal kath.net lesen, sagt er, aber auch dort nur in den Kommentaren. Nein, er blogge nicht, er verteilt seine Botschaft hier vor Ort an seine Leser, und er hat heute ein großes Publikum.
Die auffallend schlanke Dame Anfang fünfzig, die neben mir auf der Sitzgelegenheit im Foyer Platz nimmt, ist heute abend „wegen dem Joschka“ gekommen. „Ich wollte ihn mal wieder sehen!“ Als ich ihr sagte, ich hätte ihn gerade eben schon gesehen, vor etwa fünf Minuten, als er gemeinsam mit Cohn-Bendit und Stéphane Hessel die Treppe heraufkam, schaute sie mich mit einer Mischung aus Unglauben und Neid von der Seite her an. Fischer läuft nicht einfach nur die Treppe hinauf, er versucht, sie hinaufzuschreiten. Und bei dem körperlichen Volumen fällt es schwer, sich vorstellen, daß er einmal Jogger war. Meint auch sein weiblicher Fan, als ich die Rede darauf bringe. Er habe ja ziemlich zugenommen. Seit er eine sehr viel jüngere Frau geheiratet habe, sage ich, was meiner Gesprächspartnerin nicht so recht gefällt. Sie wundert sich über den Buchtisch, der links von uns steht. Darauf werden die Bücher von Hessel und Fischer angeboten, die sie nicht kennt. Auch „Empört Euch!“ ist ihr entgangen. Es stellt sich heraus, daß sie auch von Hessel noch nichts gehört hat, sein Name sagt ihr nichts, sie sei heute nur gekommen, „um mal wieder den Joschka zu sehen“. Der Abend wird von 3sat aufgezeichnet, sage ich. „Die bringen immer Kultur, gell?“ Fan und „Schatzi“ haben Angst, den Einlaß zu verpassen und beginnen, sich durch die Reihen nach vorne zu arbeiten.
Die alerte mittelalte Dame, die neben mir auf dem Sitz Nr. 1 Platz genommen hat, ist auch sehr kommunikativ. Sie sei heute mittag schon da gewesen, als der neue Spielplan vorgestellt wurde. Nichts, was erwähnenswert wäre, nur der Intendant Reese wiederhole sich bisweilen, das störe sie mittlerweile. Sie applaudiert wenig, aber an denselben Stellen wie ich, was mich zunehmend irritiert. Als der Abend zu Ende war, ging sie schnell, ohne sich zu verabschieden.
In der Mitte rechts, dritte, vierte Reihe im Parkett, sitzt die Applausfraktion, die sogar Fischer stört. „Die da immer klatschen.“ Nein, Steinbrücks Selbstausrufung zum Kanzlerkandidaten der SPD 2013 habe ihn nicht umgestimmt: „Dany, ich bin draußen.“ Kein Comeback. Das wirkt ziemlich abgesprochen und müde, wie der ganze Abend, genaugenommen. Das Gespräch handelt von vielem – von der angeblichen Geburt der Europapolitik in den KZs, wo die Gefangenen sich als Europäer empfunden hätten, von der Notwendigkeit der deutschen Beteiligung am Krieg in Bosnien, von dem Boom der Grünen in Frankreich und Deutschland bis hin zum israelisch-palästinensischen Konflikt –, nur nicht von dem Thema des Abends: „Realpolitik gestern – heute – morgen. Kann es so weitergehen?“ Hessel ist mit 93 Jahren außergewöhnlich lebendig, er ist ein Ereignis per se, sein wacher Geist ist ganz außergewöhnlich. Und die Freude, die man ihm anmerkt, wenn er, von Cohn-Bendit dazu aufgefordert, Gedichte auf Deutsch und auf Französisch rezitiert, tut gut. Er wird mit stehenden Ovationen verabschiedet.
Das Haus leert sich langsam. In der U-Bahn unterhalten sich zwei ältere Damen angeregt weiterhin über das Gespräch der drei grünen Herren. Sie sind sich einig: Wenn man bedenke, „was wir da eben für Figuren gesehen haben und was für ein Grobzeug heutzutage in Berlin herumläuft…“
Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet. Eine gekürzte Fassung soll demnächst in 3sat und in hr2-kultur gesendet werden.
Der Brandstifter als Feuerlöscher
Peer Steinbrück, der als Bundesfinanzminister einst in Deutschland die strukturellen Voraussetzungen für die Finanzkrise geschaffen hatte („und Schröder hat sein Hartz IV gemacht“), hat in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk seine Kanzlerkandidatur für die SPD angekündigt.