Römerberggespräche über den „Optimismus der Ingenieure – Wieviel Risiko ist verantwortbar?“

An ein Erdbeben hätten sie durchaus gedacht, die japanischen Ingenieure hätten ihre Atomkraftwerke für Erschütterungen bis zu 8,2 auf der Richterskala ausgelegt. Auch ein Erdbeben, das von einem Tsunami gefolgt würde, hatten sie sich vorgestellt, aber nur bis zu einer Fluthöhe von fünf Metern. Tatsächlich war die Welle, die kam, aber acht Meter hoch, deshalb kam es am AKW Fukushima zu so erheblichen Schäden, daß eine „teilweise Kernschmelze“ eintrat.

Zwei Monate nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima beschäftigten sich die Römerberggespräche, die heute im sich langsam füllenden Chagallsaal des Schauspiel Frankfurt stattfanden, mit dem ungebrochenen „Optimismus der Ingenieure“, denen bekanntlich „nichts zu schwör“ ist, wie Dr. Erika Fuchs die Anfangszeilen des „Ingenieurlieds“ von Heinrich Seidel einst donaldisiert hatte. Von Harrisburg reicht die Spur über Tschernobyl bis nach Fukushima – und von dort wohin? Immer weiter so?

Der Staatsrechtler Oliver Lepsius, der einer breiteren Öffentlichkeit vor allem wegen seines Klartext-Interviews in Sachen zu Guttenberg bekannt geworden war, diskutierte in seinem Vortrag das Verhältnis von „Wissenschaft und Politik: Wer verantwortet Risiken?“ Lepsius versteht das Risiko als die Kehrseite der Freiheit. Man kann falsche Entscheidungen treffen, und es sei ganz und gar nicht ehrenrührig, wenn der Gesetzgeber sich neu und dabei anders entscheide als zuvor, im Gegenteil, das sei seine ausdrückliche Aufgabe und das unterscheide ihm vom Gericht, dem man es zu Recht übelnehme, wenn es nach kurzer Zeit seine Meinung ändere, weil darunter die Rechtssicherheit leide. In der Demokratie entscheide die Mehrheit, was dadurch legitimiert werde, daß die Minderheit jederzeit die Möglichkeit habe, selbst zur Mehrheit zu werden. Mehrheiten könnten sich ändern. Entscheidend sei seiner Ansicht nach, daß die Politik ein Primat über die Wissenschaft habe. Es gebe letztlich nur sehr wenige wirkliche „Sachzwänge“. Er forderte die Politik auf, ihre Spielräume zu nutzen und auch gegen die etablierte Verfassungsrechtsprechung Entscheidungen zu fassen, wenn sich eine Sachlage oder deren Bewertung nachhaltig geändert habe. Entscheidungen sollten nicht auf zu lange Sicht geplant werden. Je länger man Prognosen anlege, desto ungenauer und unsicherer würden sie. Besser eine kurz- oder mittelfristige Entscheidung, statt bei dem Versuch scheitern, eine langfristige Lösung zu finden und gar keine Lösung zu versuchen. Seine Einstellung erinnerte vielleicht nicht zufällig an das Bonmot von David Carlisle: Doubt of whatever kind can be overcome by action alone. Aber auch der Name Popper fiel: Gute Entscheidungen müßten revidierbar sein, und sie müßten auch revidiert werden, wenn die Zeit dazu gekommen ist. In der Diskussion konnte Lepsius das Problem der Verquickung von Interessen zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft dann aber nicht ausräumen. Letztlich ist es sehr schwer, zwischen den Interessen zu unterscheiden, vielfach gibt es Überschneidungen auch beim Personal, und die Dinge liegen komplizierter als man beim Zuhören seines messerscharf formulierten Vortrags hätte meinen können, der ohne jede juristische Verklausulierung auch für Laien gut verständlich war.

Den ehemalige CERN-Physiker und Schriftsteller Ralf Bönt, der im März 2011 zwei tieferschürfende Beiträge[1][2] zum GAU in Japan in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht hatte, wies in seinem Vortrag unter anderem auf die Potenzphantasie ab, die bereits in der Ausstattung des Raums liege, von dem aus ein Atomkraftwerk gesteuert werde. Diese beschränke sich keinesfalls auf das technisch Notwendige, sondern wirke auf ihn als Physiker eher „wie aus dem Raumschiff Enterprise“ entlehnt. Viel zuviele Hebel, Tasten und Bildschirme gebe es dort, die sehr viel mehr Macht vorgaukelten, als ihr Bediener tatsächlich innehabe. Er bettete diese Beobachtung ein in eine Schilderung der Geschichte der Elektrizität, die mit vielen Anekdoten aus dem Leben von Michael Faraday ausgemalt war. Die Atomkraft sei einmal mit dem Versprechen beworben worden, der elektrische Strom werde irgendwann einmal so billig sein, daß man ihn gar nicht mehr abzurechnen brauche (too cheap to meter). Den Gedanken führte Wolfgang Bonß fort, als er in der Diskussion zu seinem Vortrag über die „Sicherheitsphantasien der Moderne“ erzählte, Simca habe in den 50er Jahren ein „Atomauto“ entwickelt, das von einem kleinen Reaktor angetrieben worden sei. Man habe das Projekt dann aber doch nicht fortgeführt, weil es als zu gefährlich erkannt worden sei.

Zum Abschluß kam es zu einer lebhaften Diskussion zwischen dem Sozialpsychologen Harald Welze, dem Darmstädter Ingenieur Manfred J. Hampe und Daniel Cohn-Bendit (alle Bilder von User:Dontworry bei Wikipedia-de; CC-by-sa 3.0 unported). Welzer zeigte sich angesichts der Frage, „welche Halbwertszeit der Fukushima-Schock“ habe, bestürzt angesichts der Schnelle, mit der das Unglück aus den Schlagzeilen verschwunden sei, vor allem angesichts der Schwere der Katastrophe und der Auswirkungen, die es für die Betroffenen vor Ort habe. Sehr bald sei in den deutschen Medien nur noch die kleinliche Diskussion zum deutschen Ausstieg übriggeblieben. Cohn-Bendit zeigte sich optimistischer. Wenn es Deutschland gelinge, schrittweise auf regenerierbare Energien umzustellen, habe das eine enorme Ausstrahlung auf andere Länder, insbesondere, aber nicht nur auf Frankreich. Dort ziele man auf ein Referendum zur Frage ab, ob die Bevölkerung eine Modernisierung des AKW-Bestands wolle.

Zwischen den beiden grünen Ausstiegsbefürwortern hatte es der Darmstädter Maschinenbauingenieur Hampe, der offenbar kurzfristig für die Veranstaltung zur Verfügung gestanden hatte (im gedruckten Programmheft ist er nicht nachgewiesen, auf der Website erst nachträglich angekündigt worden), sichtlich schwer, seine Skepsis über den Ausstieg aus der Atomkraft zum Tragen zu bringen. Das lag nicht zuletzt an seiner rhetorischen Unterlegenheit, aber auch an den Bildern, die er bemühte. Selbst der Anstieg der Kohlendioxidgehalts angesichts einer vorübergehenden Zuwachses der Kohle nach der Abschaltung von AKWs machte ihn nicht bange, denn die Dinosaurier hätten damals auch ganz wunderbar mit einer Atmosphäre gelebt, die deutlich mehr CO2 enthalten habe als die heutige. Seine Argumentation enthielt auch leicht durchschaubare Muster von Extrapolationen technischen Fortschritts, die insbesondere nach dem in Rede stehenden Desaster ganz einfach nicht mehr plausibel erscheinen.

Die beiden anderen Diskutanten und auch die Mehrheit der Zuhörer im Publikum konnten angesichts von Hampes Beitrag nur mit dem Kopf schütteln. Welzer führte aus, daß man gesellschaftliche und technische Entwicklungen nicht einfach fortschreiben könne. Niemand habe die Entwicklung in der arabischen Welt noch vor einem halben Jahr vorhersehen können. Und, schließlich: „Wer will schon ein Dino sein?“ Allerdings sei der Ausstieg nicht ohne eine grundlegende Änderung des westlichen Lebensstils zu haben. Man müsse bedenken, welche Kraftanstrengung es gerade für Japan gewesen sei, eine Technologienation zu werden: Das Land verfüge praktisch über keine eigenen Bodenschätze. So etwas sei in Zukunft wohl nicht mehr möglich. Der Umbau der Energieversorgung gehe insbesondere notwendig einher mit einer Regionalisierung in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Moderator Alf Mentzer von hr2 wies anhand eines Gastbeitrags von Volker Kauder im Spiegel darauf hin, daß die CDU dies derzeit leugne, wohl um den Politikwechsel ihren eigenen Anhängern besser verkaufen zu können. Daniel Cohn-Bendit ergänzte abschließend, beispielsweise die chinesische KP habe nach Japan ein Moratorium für die Atomenergie verhängt, weil man dort sehr gut wisse, daß ihre Herrschaft durch einen GAU ernsthaft gefährdet sein würde. Die Hälfte der chinesischen AKWs stehe auf erdbebengefährdetem Terrain.

Die Stimmung unter den Besuchern der Veranstaltung war klar auf den Ausstieg gerichtet. Nur ein Besucher äußerte sich atomkraftfreundlich in der Diskussion. Die Revolution fand an diesen Nachmittag im Frankfurter Schauspiel buchstäblich im Saale statt. Es ist noch ein langer Weg, aber man war sich einig, daß er begonnen habe.

Werbung