Ein Gespräch klingt in mir nach: Was ist aus dem Diskurs im Netz geworden? Wir hatten eine vergleichsweise hohe Diskussionskultur in den Mailinglisten und im Usenet. Dann kamen die Blogs hinzu, und es gab noch mehr Raum, Gedankengänge im größeren Zusammenhang auszuführen, Links auf Quellen zu setzen ohne Medienbruch, Kommentare zu schreiben, auf die man sich wiederum beziehen konnte. Dann griffen beispielsweise die Zeitungen dies auf. Seit ein paar Jahren kann man auch bei der alten Tante FAZ und bei ihrer liberalen Schwester ZEIT zu jedem Artikel seinen Senf hinzugeben. Aber man merkt zunehmend, daß die Stellungnahmen und die Wortwechsel allenthalben flacher geworden sind, auch dort, wo sich doch eigentlich das Bildungsbürgertum noch am ehesten versammeln sollte. Nur wenige Autoren sind auf Dauer lesenswert, nur wenigen bin ich deshalb seit mehreren Jahren treu geblieben.
Die Netzkultur hat sich verändert. Die meisten Diskutanten sind meiner Wahrnehmung nach heute wesentlich schlechter informiert als früher. Hinzu kommt, daß die Gemeinde auseinanderfällt, je nach der Informationskompetenz: Während ich mich etwa vorrangig aus Offline-Quellen versorge – vor allem lese ich neben der Fachliteratur zunehmend gerne politische Sachbücher – und aktuelle Fragen zunehmend im Deep Web recherchiere, unterrichtet sich die breite Masse online aus dem, was die kommerziellen Suchmaschinen für sie bereithalten. Wenn es schon rein online sein soll: Auch das Lesen eines E-Paper, und sei es nur über die zu Recht viel geschmähte Onleihe der Stadtbüchereien, bietet ein qualitativ besseres Produkt als die Nachrichtenwebsites mit ihren flüchtigen Schlagzeilen und mit den oft dürftig von Praktikanten zusammengeschusterten Häppchenmeldungen. Print ist weiterhin besser als online, weil die meisten Onlineredaktionen schlechter ausgestattet werden. Und wenn ein Print-Text im Netz zweitverwertet wird, muß man ihn erst einmal auffinden. Vieles wird tief auf den Websites vergraben, um die Zahl der Klicks und damit der Zugriffe für die Statistik für Werbekunden künstlich zu erhöhen. Die einzige positive Ausnahme unter den Online-Quellen, die mir derzeit einfiele, ist dabei ganz sicherlich tagesschau.de, wo fast rund um die Uhr ein schlüssiges und qualitativ gutes Angebot bereitgehalten wird.
Aber neben der Ausdifferenzierung der Informationskultur wirkt sich doch wohl auch die Twitter-Kultur nachteilig auf den Diskurs im Netz aus. Eine Gemeinde, die sich den Umfang und die Art ihres Austauschs von den sozialen Netzwerken vorschreiben läßt, muß damit letztlich auch die Qualität der Inhalte unterminieren. Diese Dienste sind kaum mehr als Linkschleudern geworden. Eine Diskussion findet dort schon aus technischen Gründen nicht statt. Deshalb beschränkt sich auch die Kritik der Datenschützer in erster Linie auf Features wie die Gesichtserkennung bei Fotos, die dort eingestellt worden sind, oder die Nutzung der Daten aus den dort hochgeladenen Adreßbüchern. Von wirklichen Inhalten – Gedanken, Meinungen, Diskussionen – ist keine Rede. Wenn sich die politische Meinungsäußerung auf das Gründen einer Facebook-Gruppe beschränkt, ahnt man, wieviel Differenziertheit hierbei verloren geht, zumal auch dort bei weitem nicht das inhaltliche Niveau und die Ausführlichkeit erreicht werden, die man über die Listen- und die Usenetarchive aus früheren Jahren nachvollziehen kann. Manchmal finde ich noch auf den Diskussionsseiten in Wikipedia einen Austausch, der mich an frühere Zeiten erinnert. Aus Erfahrung weiß ich aber auch, daß den wenigsten Benutzern bekannt ist, daß es zu jeder Wikipedia-Seite auch eine Diskussionsseite gibt, obwohl der Tab in der Bedienoberfläche deutlich zu sehen ist. Wie kommt das?
Die Menschen sind heute sehr viel weniger neugierig als früher. Sie lassen sich in vorgefertigte Käfige und Datensammelanlagen einpferchen, lassen sich ein Netz im Netz vorsetzen, statt sich selbst von Fall zu Fall eine für sie passende Lösung zu suchen und sich dort nach Gusto einzurichten. Statt sich öffentlich erreichbar zu machen, lassen sie sich wie die Lemminge wandernd auf geschlossenen Plattformen wie Facebook häuslich nieder, weil „alle anderen auch schon dort“ seien. Es interessiert sie deshalb nicht, was sich hinter dem gut sichtbaren Tab mit der Aufschrift „Diskussion“ in Wikipedia wohl verbergen mag. Wer könnte dort auch anzutreffen sein, wenn „alle“ doch ganz woanders sind? Vielleicht sehen auch viele heute den Tab auch schon gar nicht mehr, weil sie Wikipedia nur noch über einen Zweitverwerter wie eben Facebook, Spiegel Online oder Web.de kennengelernt haben. Die Diagnose mangelnder Neugier gilt nicht nur für den akademischen Bereich, sie gilt ebenso für das Handwerk. Von den Berufsschulen hört man beispielsweise, daß angehende Schneiderinnen heute sehr viel weniger als in früheren Generationen an den Modeschauen interessiert seien, die dort traditionellen zum Abschluß der Ausbildung veranstaltet werden, obwohl gerade hier die Möglichkeit sich böte, völlig frei von kommerziellen Beschränkungen seiner Phantasie freien Lauf zu lassen und kreativ zu sein. Aber was ist denn das nun wieder: Kreativität?
Kann man daran etwas ändern? Verallgemeinerungen sind wahrscheinlich fehl am Platze, jeder muß bei sich selbst anfangen. Und außerdem ist es nur so eine Wahrnehmung von mir, wie eingangs gesagt. Ein Gespräch klingt in mir nach. Es war aber kein Selbstgespräch, soviel ist sicher, wir sahen es ähnlich.
Ich lese Deinen Text und kann in weiten Teilen zustimmen. Ich ertappe mich selbst viel zu oft dabei, Dinge nicht zuende zu recherchieren. Oft steht dahinter der Glaube, dass _60 Prozent auch in vielen Fällen genügen_. Das sagte einmal ein Chef zu mir, weil ich im Ruf stehe, ein Pedant zu sein, wenn es um Fakten geht und um die Qualität von Arbeitsergebnissen. Genauigkeit kostet aber Zeit. Erstklassige Qualität ist in vielen Fällen nicht schnell zu erreichen. Zeitmangel ist einer der elementaren Gründe für mangelnde Qualität. Wir haben (oft) keine Zeit mehr, um richtig zu schauen. Wir fühlen uns getrieben oder sind faktisch getrieben (von Außen). Wir müssen liefern. Dass uns Qualität abhanden kommt, wird sich erst später zeigen und auch nur dann, wenn wir Dinge in einem größeren (zeitlichen) Zusammenhang sehen wollen/können. Ein weiterer Grund für einen mangelnden Diskurs ist, dass wir alle zugemüllt werden mit Informationen. Ich bin sicher, dass bei einer Betrachtung der gelesenen Menge Texte/Informationen pro Zeiteinheit und Person herauskommen würde, dass wir mehr lesen als früher. Wir lesen aber mehr _Kakophonisches_. Viel von dem Gelesenen hat wenig objektiven Wert.
Was Deine Gegenüberstellung zwischen Zeitungen und Netz angeht, so stimme ich Dir nicht zu. Zeitung ist nicht per se überlegen. Im Gegenteil: Heute bemerke ich so klar und häufig wie sonst nie, wieviel Mist veröffentlicht wird. Ich stelle massive Beeinflussung von Meinung fest und ich stelle fest, dass es eine Berichterstattung, die sich um Sachlichkeit und Objektivität bemüht, immer weniger existiert. Möglicherweise ist das früher genauso gewesen und es ist uns einfach nicht aufgefallen, weil wir in vielen Fällen nicht die Chance hatten, selber zu recherchieren. Und natürlich gilt trotz meiner Kritik, dass es auch gute Presseerzeugnisse gibt. Es ist wie immer: Verallgemeinerungen sind schwierig. Idealerweise schaut man sich jeden Text einzeln an und macht sich klar, ob er gut ist oder nicht, was ihm ggfs. fehlt etc.. Und da ist es wieder: das braucht Zeit.
Vielleicht betrachten wir Probleme derzeit einfach mit zuviel Ungeduld und auch aus zu großer zeitlicher Nähe. Dinge, die wachsen, brauchen Zeit. Alte Dinge (wie die Presselandschaft) genauso wie neue Dinge (wie _das Netz_). Und wenn ich von Zeit spreche, dann spreche ich von Vielfachen von Jahren, vermutlich sogar Jahrezehnten. Betrachtungen von wenigen Monaten oder Jahren sind eine Momentaufnahme und sie sind per se kaum dazu geeignet Allgemeingültiges feststellen zu können. Glaube ich ..
Idealerweise schaut man sich jeden Text einzeln an und macht sich klar, ob er gut ist oder nicht, was ihm ggfs. fehlt etc.. Und da ist es wieder: das braucht Zeit. Vielleicht betrachten wir Probleme derzeit einfach mit zuviel Ungeduld und auch aus zu großer zeitlicher Nähe. Dinge, die wachsen, brauchen Zeit. – Ich nutze beispielsweise sehr gerne die Volltextarchive von Wochenzeitungen (Spiegel, Zeit, Freitag, Economist über Nationallizenz) und lese Artikel mit mehreren Wochen oder Monaten Verzug. Die Geschichte ging derweil weiter, aber wie sah man das damals? Und ein E-Paper ist m.E. „besser“ als die Zweitverwertung auf der Website, weil die Beiträge im Zeitungslayout einfacher zu überblicken sind. Ich kann direkt „die Seite 3“ in der SZ oder die Beilage in der FAZ oder die Titelgeschichte im Spiegel aufrufen. Dort gibt es weiterhin eine andere Gewichtung der Themen als in den Blogs. Das eine ist ein Korrektiv des anderen. Natürlich recherchiere ich auch gezielt Themen, aber das, worauf ich mich bei meiner Meinungsbildng letztlich stütze, sind Printquellen, seien es Zeitungen oder Bücher, weil sie ausführlicher sind und Zusammenhänge herstellen. Sehr oft drucke ich solche Texte, wenn ich sie online beschaffe, dann auch aus, um sie zu lesen, weil auch so eine andere Lektüre möglich ist als am Bildschirm. Auch online greife ich zunehmend auf die Printveröffentlichung zurück, siehe oben. Die Blogosphäre leistet nämlich weiterhin eines nicht: Tiefgang, Analyse, auf wissenschaftlicher Grundlage. Fehlanzeige. Deshalb: Das eine ergänzt das andere, aber das Leitmedium ist weiterhin nicht „die Blogosphäre“. Diese lebt ja auch zumeist von Print, ist also nur ganz ausnahmsweise thematisch „selbständig“.
Fazit: (1) Die Zivilgesellschaft kann sich weiterhin nicht selbst informieren, es gibt keine Ansätze zu einem inhaltlichen Austausch, zu einer Gegenöffentlichkeit, die von der Konzernpresse unabhängig wäre oder die jedenfalls gleich bedeutsam sein könnte. Und außerdem (2): Die Anpassung des Diskurses auf die 140-/300-Zeichen-Beschränkungen von Twitter und Facebook & Co. steht dem zudem m.E. im Weg, weil sich in diesen Medien keine vertiefende Debatte im Netz ergeben kann.
Ganz wichtig ist mir, dass ich klarmache, dass ich nicht per se daran zweifele, dass Print derzeit noch alle Vorteile für sich hat. Das hat zu tun mit der langen Geschichte von Zeitungen und den großen Schätzen, die man beispielsweise in Form von Volltext-Archiven nutzen kann. Diese sind ein Kulturgut. Auch aus Gründen der Gewöhnung hat Print noch Vorteile. Der Mensch nimmt Papiegelesenes deutlich anders auf und viel nativer und tiefer als Texte, die er am Schirm oder vom Kindle o.ä. liest. Allerdings gilt auch: der Mensch ist ein Gewohnheitstier und erobert sich auch neue Varianten, sich Dinge anzueignen. Und noch eine Sache: ich sprach neulich mit meinem Vater über das Kindle. Mein Vater ist Jahrgang 1930 und war stets ein Mann der Wissenschaft und ein sehr klarer Geist. Er hat sich aus praktischen Erwägungen das Kindle (ein Gerät kann viele viele Bücher ersetzen, die man auch nicht herumtragen muss etc.) zugelegt und ist damit einerseits zufrieden. Andererseits fehlt derzeit vollkommen die Vielfalt an Texten, Büchern und Quellen, um diese mit solcherlei Gerätschaften zu entdecken. Es gibt kaum neue Literatur, fast keine neuen philosophischen Texte, keinerlei naturwissenschaftlichen Abhandlungen. Da hat das Buch noch eine ganze Weile beinahe Null Konkurrenz. Ohnehin kann man sich fragen, ob Kleinauflagen literarischer Texte jemals als Ebook erscheinen werden. Und was wird aus Verlagen wie Prestel, Manesse, Wagenbach & Co., die einerseits tolle Autoren verlegen und Texte, andererseits aber eben auch wunderschöne Bücher machen. Der schnöde Text am noch so feinen elektronischen Begleiter kann nicht Haptik ersetzen, kann nicht Erinnerungen erzeugen und/oder eine emotionale Bindung. Was ich sagen will: es gibt soviel mehr Ebenen, die es zu beachten gilt. Und selbst wenn ich viele dieser Ebenen weglasse, so wird das Buch oder die Zeitung/Zeitschrift auch auf Sicht immernoch Vorteile haben. Allerdings holen die neuen Medien mit ganz neuen Möglichkeiten auf. Und wenn die Verlagshäuser ihren Schlaf der Gerechten noch halbwegs zeitig beenden werden und mal anfangen, ihre Pfründe, Erfahrungen und Know-How in die Zukunft zu übertragen, dann wird mir auch nicht bange um sie. Blogs & Co. werden sich ihre Felder erobern. Vielleicht sind das nur Nischen. Vielleicht entstehen ganz neue Riesen am Markt. Was wir aktuell erleben ist nicht mehr und nicht weniger als ein Anfang.
Übrigens: Texte werden nicht nur in Blogs & Co. immer kürzer. Als seinerzeit DIE ZEIT sich einem sinnvollen und angebrachten Re-Design unterzog, so hatte das zur Folge, dass die als beinahe unlesbar geltende Zeitung sich auch auf dem Papier in eine bessere Zukunft rettete und sogar neue Leser fand. Ähnliche Effekte gab es beim Re-Design der FAZ und dem Re-Design der Rundschau und dem dort vollzogenen Wechsel hin zum Tabloit-Format. Jedes einzelne Re-Design barg in sich eine Kürzung der Textlängen. Du siehst: Den Hang zum Kurzen, zum angeblich besser zu verarbeitenden Happen kann man auch außerhalb des Netzes finden. Ich finde diesen Weg an vielen Stellen richtig, allerdings finde ich auch, dass er auch an Stellen begagen wird, wo Kürzen unzulässig ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass man manchen (Holz)weg erst zuende gehen muss um zu sehen, dass er nirgends hinführt. Hoffen wir, dass man bald umkehrt .. 😉
auf die Gefahr hin eine Linkschleuder zu sein, dradio bietet meistens sehr gute weiterführende Themen zu jedem Beitrag, manchmal Jahre alt, aber lohnend. Und sie verzichten auf Kommentare
ist bestimmt nicht überall so, aber je mehr Blogs ich lese, desto mehr schätze ich Zeitung