Wikipedia ist (k)ein Newsticker

Heather Ford beschreibt in einem Blogpost im MediaShift Idea Lab von PBS, wie Wikipedia zunehmend Funktionen des klassischen Journalismus übernimmt. Artikel über aktuelle Nachrichten zählen zu den am häufigsten abgerufenen Seiten in Wikipedia. Andererseits sei aber auch die Schwelle, sich als neuer Autor an Wikipedia zu beteiligen, bei aktuellen Themen anscheinend niedriger als sonst. Im ersten Quartal 2011 seien die Artikel mit den meisten Autoren in der englischsprachigen Wikipedia („2011 Tucson shooting“, „2011 Egyptian revolution“ und „2011 Tōhoku earthquake and tsunami“: 460, 405 und 785) zugleich diejenigen gewesen, an denen die meisten neuen Wikipedianer mitgeschrieben hätten, leider ohne diese Angabe näher zu quantifizieren. Der Artikel zum Tōhoku-Erdbeben 2011 in der japanischen Wikipedia sei nur elf Minuten nach den ersten Schockwellen angelegt worden, die englische Wikipedia sei 21 Minuten später gefolgt.

Obwohl Wikipedia kein Newsticker und keine Zeitung, sondern eine Enzyklopädie sei, sei ihr Einfluss auf den Journalismus unübersehbar, schreibt Ford. Der Versuch, aktuelle Entwicklungen in das Schwesterprojekt Wikinews zu verbannen und Wikipedia den etablierten Themen vorzubehalten, sei fehlgeschlagen. Die deutschsprachige und die englischsprachige Version von Wikinews haben derzeit jeweils etwa vier Autoren mit mehr als 100 Bearbeitungen pro Monat, und die englischsprachige Wikinews wurde gerade zu OpenGlobe geforkt.

Ford schlussfolgert, die „Relevanzkriterien“ seien offenbar ein sehr „relatives Konzept“, und sie diskutiert abschließend, wie sich der zunehmende Erfolg von Wikipedia im Nachrichtenbereich mit dem Prinzip des Neutralen Standpunkts verhalte. Immer häufiger würden im Nachrichtenbereich Primärquellen zur Grundlage von Artikeln gemacht, so dass Wikipedianer selbst die Rolle übernehmen, die den Regeln des Projekts zufolge eigentlich „reputablen Quellen“ vorbehalten sei. Damit entstehe auch eine neue Art von Geschichtsschreibung („die erste grobe Skizze einer Nachricht“), und Wikipedia könnte Gefahr laufen, einen subjektiven anstelle eines neutralen Standpunkts einzunehmen, wobei sie einräumt, dass es ganz sicherlich einen Unterschied mache, ob es in dem Artikel um eine Naturkatastrophe oder um gesellschaftlich und politisch umstrittene Themen wie beispielsweise einen Krieg gehe, wo es erfahrungsgemäß sehr viel mehr unterschiedliche Meinungen unter den Autoren gebe.

Zuerst in: Wikipedia Kurier. 25. Oktober 2011.

Werbung