Seeßlen lesen

Seeßlen lesen! Mit der Zeitung stirbt ein Medium, das zu einem bestimmten Typus von Gesellschaft gehört hat. Indem sich das Bürgertum auflöst und immer radikaler prekarisiert, verschwindet auch dessen ureigenstes Forum. Es ist mehr als eine Medienkrise, es ist ein bloßer Reflex der gesellschaftlichen Krise. Es geht um die Inhalte selbst, nicht um deren Transportwege (Papier oder Bildschirm). Und: Diese Gedanken sind selbst nicht gerade unbürgerlich.

Kommentar bei: Carta. 26. November 2012.

Werbung

Jedenfalls kein Massenmedium

Vom Insolvenzantrag der FR hatte ich als erstes aus meiner Beobachtungsliste in Wikipedia erfahren: Plötzlich viele Bearbeitungen des Artikels, was war denn da passiert? Bei anderen mögen an dieser Stelle die unterschiedlichsten sozialen Netzwerke oder Blogs stehen. Aber jedenfalls kein Massenmedium. Und erst recht keine Zeitung. Da wundert mich der Insolvenzantrag nicht.

Mittlerweile glaube ich auch, daß Journalismus als Beruf am ehesten noch in der Form einer gemeinnützigen Stiftung eine Zukunft haben könnte, funktionierende kommerzielle Modelle (jenseits von Abschreibungsobjekten) wird es aber immer seltener geben. Kritischer Journalismus sollte versuchen, sich über Crowdfunding und Spenden online zu organisieren, gegebenenfalls auch mit einem eigenen Förderverein, der das Spendensammeln für alle organisiert – wenn den Lesern dadurch mehr geboten werden kann als durch Blogs allein schon möglich ist.

Wenn die Verlage zunehmend keine attraktiven Produkte mehr anbieten können, bleibt es der Zivilgesellschaft, sich selbst zusammenzufinden und sich gegenseitig zu informieren. Und das klappt jetzt schon seit Jahren, und immer besser. Es kann über alle Kanäle im Web 2.0 laufen: Blogs, Twitter, auch Wikis eignen sich dazu, siehe oben. Und das kann durchaus auch zu einer sehr viel wirksamerem Kontrolle von Politik führen als die früheren kommerziellen Strukturen.

Die Pressefreiheit war schon immer die Freiheit ganz weniger Verleger, ihre Meinung veröffentlichen zu dürfen. Rundfunk und Presse sind parteipolitisch in Besitz genommen und vielfach in politische Abläufe strategisch eingebunden und verstrickt. Die Abhängigkeit von Werbung tat ein übriges, ihre Inhalte auf bestimmte Linien einzuschränken. Deshalb bin ich als Bürger optimistisch, wenn deren Einfluß schwindet und etwas anderes an ihre Stelle tritt, wie eingangs beschrieben.

Kommentar bei: Carta. 22. November 2012. – Mit Dank fürs Redigieren. 😉

Abschied von den Eltern III

Und einmal sprachen wir sogar vom Aufhören. Daß es geendet hat, und wie, und für immer. Und wie es damals war. Und wie es soweit gekommen ist, daß es dann enden mußte und nicht mehr weitergehen konnte. Erfahrungen von Endlichkeit sind genaugenommen selten, denn wir werden in eine Welt hineingeboren, die, gemessen an der menschlichen Lebesspanne, die uns als Maßstab dient, immer schon da war und die uns auch überdauern wird. In der Natur gibt es kein wirkliches Aufhören, Enden – die Arten bleiben erhalten, das Individuum tritt dahinter zurück. Aber der Tod von Menschen ist die einzige Erfahrung, die wirklich einen Eindruck von Endlichkeit vermittelt. In manchen Fällen kommt ihnen der Tod von Wirbeltieren nahe, denn auch an Katzen oder Hunde kann man sich als Wesen erinnern: Wie sie waren, als sie lebten. Was sie mochten, wie sie sich verhielten. Und was wir an ihnen mochten – oder nicht. Die Erinnerung an Menschen ist ungleich differenzierter, und sie endet noch lange nicht mit ihrem Tod. Von nun an existiert zwar nur noch die Erinnerung. Neue und insbesondere: korrigierende Erfahrungen mit dem Betreffenden sind von nun an ausgeschlossen. Bilder frieren ein. Die lange Endlosschleife beginnt. Zeitraffer und Zeitlupe wechseln einander ab. Was aber bleibt ist, was die Beziehung mit dem Verstorbenen aus mir gemacht hatte. Und mit jedem Toten verschwindet eine ganze Welt, mit der er uns verbunden hatte. Auch sie wird in diesem Sinne historisch und damit schließlich auf eine neue Art zugänglich. Im Nachhinein sieht vieles anders aus, stellen sich Entscheidungen und Weichenstellungen als richtig oder als korrekturbedürftig heraus. Treten einzelne Bilder und Szenen hervor, andere dagegen zurück. Das Leben wird rückwärts verstanden, aber es muß vorwärts gelebt werden.

Abschied von den Eltern II

Gibt es einen „richtigen“ Umgang mit Trauer? Die Frage erinnert an den Versuch über das „‚richtige‘ Leben im Falschen“. Man kann es nur falsch machen. Wenn die Vernunft versagt, weil die Depression stärker ist als gewöhnlich. Das Hörspiel „Der Tod meines Vaters“ von Hans Noever (1971) fällt mir wieder ein: Das ständige Wieder-Erzählen und Wieder-Erinnern, wie es war, als es passiert ist. Wie es anders hätte sein können. Wie es hätte sein sollen. Warum es gut war, wie es gekommen ist. Und was daran nicht richtig ist. Wahrscheinlich war es ganz anders, nämlich so. Diese ständige Wiederholung ist der Versuch einer Selbsttröstung und gleichzeitig eine Erforschung verschiedener Perspektiven auf dasselbe unerhörte Ereignis. Also endet die Woche ganz anders als erwartet. Wirklich?