Autoritäre Netzwerke

Der virtuelle Raum entspricht der gesellschaftlichen Sphäre.

Die Mailingliste und das Usenet spiegelten den Gesellschaftsentwurf der 1970er und der frühen 1980er Jahre: Alle, die sich für ein Thema interessieren und darüber diskutieren wollen, betreten denselben Raum und erhalten über diesen Kanal exakt die gleichen Nachrichten. Wer eine Diskussion oder einen einzelnen Diskutanten nicht weiter verfolgen will, muß sie durch einen Filter in seinem Mail- oder Newsclient ausblenden. Alle sind untereinander gleich, und niemand muß sich Gedanken darüber machen, er könne etwas verpassen, denn er hat ja an allem Anteil. Er kann sich gelassen zurücklehnen, in dieser Welt wird ihm nichts entgehen. Die Newsserver und die lokalen Archive sind umfangreich und gut durchsuchbar. Alles ist mehrfach redundant auf vielen Servern und Netzwerken vorhanden, damit auch wirklich alle versorgt sind.

Die sozialen Netzwerke entsprechen dagegen einem neoliberalen Gesellschaftsentwurf: Alles ist hinter einer virtuellen Wand versteckt, in die man den Betreiber zunächst um Einlaß bitten muß. Jeder bezahlt mit seinen guten Daten. Und man muß sich zum Teil eines sogenannten Netzwerks machen, um in diesem Raum überhaupt irgendeinen „Inhalt“ abzubekommen. Durch die Netzwerkstruktur wird also zunächst der Content, den die Gemeinde untereinander „teilt“, künstlich verknappt. Dem liegt aber auch im Vergleich zu dem vorstehenden Entwurf, eine grundlegend andere Vorstellung von Gesellschaft zugrunde, in der Benutzerkarrieren modelliert werden. Es sind protestantische Medien: Wer nichts beiträgt, sondern nur mitlesen möchte, wird mißtrauisch beäugt. Das Dazugehören will verdient werden, idle nur anwesend sein, wirkt leicht etwas seltsam.

Vor allem aber korrespondieren die Struktur und die Praxis in sozialen Netzwerken dem Verfall der bürgerlichen Gesellschaft. Die Fragmentierung der Kommunikationsstruktur des virtuellen Raums ist zugleich eine Radikalisierung des Content-Egoismus wie der Kommerzialisierung und ein Verfallssymptom. Im alten virtuellen Raum war alles grundsätzlich öffentlich; wer nur bestimmte Benutzer ansprechen wollte, mußte auf die E-Mail ausweichen. Hier ist es umgekehrt: Alles ist grundsätzlich privat, wer sich austauschen möchte, muß sich ausdrücklich miteinander verbinden. Aber es ist eine Perversion der Privatheit, denn der Betreiber der Plattform hat als Super-User Zugriff auf alles. So befinden sich die Benutzer in einer Doppelrolle. Einerseits machen sie sich selbst zum Produkt, indem sie ein äußerst hohes Maß an Anpassung aufbringen, das ihnen in der Regel gar nicht bewußt ist – vom Ausfüllen des Profils und der damit verbundenen narzißtischen Selbstpräsentation bis hin zur Produktion marktgängiger Inhalte innerhalb ihrer Kontakte und der Konstruktion ihrer Kontakteliste selbst. Andererseits indem sie ihre Daten und ihre Kontaktstrukturen gegenüber dem Betreiber völlig offenlegen und diesem eine unbeschränkte, weil faktisch nicht kontrollierbare Gewalt über alles einräumen – was in den Geschäftsbedingungen steht, ist Schall und Rauch. Diese Art von Privatheit ist zugleich ein Symptom für den Verfall der bürgerlichen Gesellschaft, für die die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum konstitutiv war.

Ebenso wie man es beim Zeitungssterben beobachten kann, stirbt auch hier der virtuelle Raum mit der Verfassung seiner Bewohner, die sich zunehmend von den alten, egalitär-freien Räumen ab- und den degenerierten und in vielerlei dekadenten Strukturen des Web 2.0 zuwenden.

Gegenbewegungen hierzu sind die Einrichtung eines öffentlichen „Streams“ in dem alternativen sozialen Netzwerk Diaspora oder die Twitter-Suche nach Hashtags über von vornherein öffentlich versandte Postings. Hier wird, zugegeben, noch so etwas wie eine Erinnerung an die frühere Netzöffentlichkeit der alten Netizens konstruiert, die aber jederzeit kündbar ist. Solche Tweets haben mitunter nur ein kurzes Leben. Und sie können den großen Trend auch nicht aufhalten, weil ihre Wahrnehmung vom Wohlwollen des Betreibers der Suchfunktion und von deren Funktion abhängig sind.

Wer auf einer Plattform Unliebsames postet, dessen Profil kann ganz gesperrt werden. Die alten virtuellen Räume dagegen waren dezentral, und sie waren gerade so entworfen worden, damit autoritäre Kontrolle und Zensur keine Chance haben sollten. Das gibt, angesichts des massenhaften Zuspruchs, den solche Strukturen heute finden, zu denken. Man sage nicht, die Benutzer hätten es nicht gewußt und sich dieser Plattformen trotzdem bedient. Wohl eher gerade deswegen.

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3 Kommentare zu „Autoritäre Netzwerke“

  1. Sehr gute Beschreibung!! Ich hab 1996/97 die Mailingliste Webkultur „moderiert“ – es war wunderbar, verglichen mit den heutigen „sozialen Netzen“ !

    Hier ein historischer/archivierter Bericht über das Listenerlebnis damals:
    Familiäre Atmosphäre mit Vor-und Nachteilen BriefFreud und Leid der Mailing-Liste Webkultur

    Man beachte aber das völlig andere Zahl- und Zeitempfinden:
    „Immerhin, ganze 136 Leute – mehrheitlich aktive Webberinnen und Webber! Sind das nun viel oder wenig? Wenn ich daran denke, daß in heißen Phasen schon mal zehn Mails pro Tag eintrudeln können, ist das eher viel. “

    Kürzlich war ich mal in einer Mailingliste der Piratenpartei, bzw. der AG Urheberrecht. Sehr sympathisch, dass die Piraten (man muss nicht Parteimitglied sein, um mitzudiskutieren) massiv Mailinglisten einsetzen.
    Trotzdem hat es mich überfordert, die Masse der Mails war nur mit viel Zeit mitzuverfolgen, zudem waren es viel zu viele Teilnehmer/innen, um so etwas wie ein „wir-Gefühl“ der Liste zu empfinden, das die Teilnehmer motiviert, Verantwortung für die Gesprächsatmosphäre zu übernehmen.

    So richtig gute Gespräche erlebe ich eigentlich nur noch auf Blogs. Doch auch sie ergeben sich nicht immer von selbst, sondern benötigen Engagement in Sachen „Resonanz geben“ und präsent sein. Zeit, die offenbar viele nicht haben.

    1. Das ist schön, daß Du Dich auch noch an die alten Zeiten erinnerst. 😉 Die „Webkultur“ hatte ich nicht mehr miterlebt, ich war nur beim Ableben der Netlife 2.0 anwesend. 😦 Aus dieser Phase kann ich mich auch noch an Dich erinnern. Und ich kann auch sagen, ich war beim Niedergang des Usenet durchaus noch an Bord.

      Der Unterschied zu heute ist vielfältig. Zum einen sind wir mehr geworden, das stimmt natürlich, aber wir haben auch viel zuviele Kanäle, auf die sich unsere Aufmerksamkeit zerstreut. Mehrere soziale Netzwerke – warum eigentlich mehrere? Und außerdem geht die Netzkultur immer mehr flöten. Seit ich im Schiedsgericht der deutschsprachigen Wikipedia bin, muß ich immer mehr erklären, was ein Netizen ist (nein, nicht dasselbe wie ein „Benutzer“…), was eine Online-Community ist (nein, nicht dasselbe wie Facebook…) und was das freie und selbstlose Weitergeben von Inhalten innerhalb einer Allmende bedeutet (nein, nicht dasselbe wie „Teilen“ unter „Freunden“…). Das alles habe ich gerade noch so mitgekriegt, und dan war auch schon gleich Schluß. Merkwürdigerweise ungefähr in der Zeit, als 9/11 passiert war. Der zeitliche Zusammenhang ist mir bis heute unklar, aber damals ließ der Traffic auf den alten Kanälen, die es damals noch gab, und vor allem in deutschen Usenet massiv nach.

      Die Diskussionen verteilen sich seitdem auf eine sehr große Zahl an Webforen, Blogs und Netzwerken, und sie sind eben in vielen Fällen auch nicht mehr öffentlich, sondern unter Verschluß.

      Ich glaube, wir machen da etwas falsch.

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