Das Interessanteste beim Zurückkommen nach der Pause ist, daß alles noch da ist. Manches ist ein bißchen anders, aber nicht viel. Bloß meine Wahrnehmung hat sich geändert. Ich bemerke vor allem, daß die Teilnahme an sozialen Netzwerken anstrengend ist und sehr viel Zeit beansprucht. Deshalb werde ich diesen Bereich noch weiter zurückfahren, wahrscheinlich bald gar nicht mehr verfolgen. Was man ein Vierteljahr lang nicht vermißt, kann man getrost beiseite legen. Andere Dinge haben dafür an Bedeutung für mich gewonnen. Aber was wirklich wichtig ist, schreibt man ja nicht ins Internet. Und der Feedreader ist tatsächlich ein famoses Werkzeug.
Archiv für den Monat Juli 2013
Ganz woanders
007 wäre schon längst in Ecuador. Oder in Venezuela. Oder auf dem Weg dorthin. Er würde nicht am Moskauer Flughafen herumsitzen und sich dort mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen treffen und abwarten, wie lange die Russen das Spiel noch mitspielen. Er hätte schon längst einen neuen Paß und mehrere neue Kreditkarten und mehrere neue Waffen, um sich den Weg zur Not freizuschießen, und er würde auch nicht über Havanna fliegen, sondern über Kairo oder Tokio oder über ganz woanders den langen Weg ins Exil nehmen. Und natürlich in Begleitung einer charmanten Dame von der Gegenseite, die ihm selbstverständlich das Wasser reichen kann, ebenso tough, ebenso smart, ebenso treffsicher und ebenso beweglich. Bloß keinen Stillstand eintreten lassen.
Am 10. Juni 2013 veröffentlichte der Guardian die Geschichte, die Edward Snowden über das Überwachungsprogramm PRISM erzählt. Kurz zusammengefaßt: Die Geheimdienste überwachen seit Jahren den gesamten Datenverkehr im Internet, speichern ihn und werten ihn aus. Die Privatsphäre ist ohne vorherige Anhörung abgeschafft worden. Und die Massenmedien machen daraus eine drittklassige Agentengeschichte.
Es war ein langer Weg, ein sehr langer Weg, bis im 18. Jahrhundert die Grundrechte erkämpft worden waren. Es war zu Revolutionen gekommen. Der Adel wurde abgesetzt, das Bürgertum setzte sich durch, es gab Kriege, es gab Tote. Der Verfassungsstaat. Der Gesetzesvorbehalt. Der Parlamentsvorbehalt. Der Staat sollte bei allem, was er tut, an das Gesetz gebunden sein. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Nur ein parlamentarisches Gesetz, ein Gesetz, das von einer Versammlung in einem förmlichen Verfahren beschlossen worden war, eine Versammlung, die ihrerseits in einem förmlichen Verfahren von allen Bürgern gewählt worden ist und die ein Gesetz beschließt, das seinerseits in formeller und in materieller Hinsicht rechtmäßig ist – nur ein solches Gesetz sollte es dem Staat erlauben, in die Grundrechte der Bürger einzugreifen. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat. In der klassischen liberalen Formulierung hat der Nachtwächterstaat den Bürger grundsätzlich ganz in Ruhe zu lassen. Laissez faire, laissez aller. Er ist Befehlsempfänger der Bürger, die ihm über das Parlament in den Gesetzen Handlungsanweisungen geben und ihn so an die Kette legen. Der Bürger handelt. Vor allem ging es dabei um Geschäfte, natürlich, die müssen laufen. Und alles ist öffentlich, es gibt keine Kabinette mehr. Die Zeitungen berichten über alles, was der Bürger für seine Entscheidungen erfahren muß.
PRISM ist das genaue Gegenmodell. Der Staat fragt nicht lange, er bedient sich und greift zu. Er holt sich keine Ermächtigung mehr, er fängt einfach an. Grundrechte kennt er nicht mehr. Leviathan is back. Wenn Macht die Chance ist, seinen Willen gegen andere durchzusetzen, waren die Parlamente und die Bürger noch nie so machtlos wie derzeit. Da läuft also etwas ganz gründlich schief.
Wer nun aber auf den Staat schimpft, hat Unrecht. In den 1980er Jahren gab es noch ein gesundes Mißtrauen gegenüber den Möglichkeiten der Informationstechnik. Aus diesem Geist heraus entstanden wesentliche Teile des heutigen Datenschutzrechts und, natürlich, auch ein neues Grundrecht, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Volkszählung konnte nicht durchgeführt werden, wie vorgesehen, sie wurde verschoben. Soviel Zeit muß sein. Das kann sich heute kaum noch jemand vorstellen. Allein die Kosten, als das verschoben werden mußte, wären heutzutage ein entscheidendes Gegenargument. Seitdem haben die Computerhersteller die Unterhaltungsindustrie übernommen und verkaufen flächendeckend mobile Telefone, mit denen sich ein ganzes Volk rund um die Uhr orten und überwachen läßt. Die ganz Coolen twittern ständig in die Welt hinaus, wo sie sich gerade aufhalten und mit wem. Mit Geodaten, live und mit Bildern. In Farbe, natürlich. Über amerikanische Server. Oder wo auch immer die stehen mögen. Und wer das ablehnt, wird als Ewiggestriger hingestellt, wieder mal einer, der dem digitalen Wandel im Weg stehe. In den 1980ern undenkbar, wie gesagt. Heute gilt sowas in der Mittelschicht als vernünftig. Eine Gesellschaft, die sich vollständig digital und in Echtzeit selbst dokumentiert, wundert sich darüber, daß diese Daten nicht nur von Privaten – schlimm genug –, sondern auch vom Staat mitgelesen und aufgehoben werden. Komplett. Warum denn auch nicht komplett und für immer? Machen ja die Privaten auch. Big data, eben. Dürfen die Privaten das denn? War da was? Und welchen Anteil habe ich daran, wenn von mir solche Daten gesammelt werden? Brauche ich ein „Smartphone“? Brauche ich überhaupt ein Phone? Und muß das immer und überall eingeschaltet sein?
Und wie gehen die Massenmedien mit dem Thema um? Siehe oben: Sie machen daraus eine drittklassige Agentengeschichte im Sommerloch und ziehen sie über viele Wochen und viele Titelstories. Der reaktionäre Staat, der die Grundrechte aushebelt und über das weltweite Netz umgeht und letztlich abschafft, wird nicht zur Disposition gestellt. Das schon zu denken, ist nach dem Neoliberalismus wohl vielen nicht mehr möglich. Der konsequente Denkschritt, daß die Demokratie derzeit nur noch auf dem Papier steht: Anscheinend abwegig. Und die Blogger sind empört. Einige von ihnen sind sind besorgt, im ganzen aber sind sie letztlich ratlos. Die Piratenpartei schläft weiter. Die anderen Parteien waren niemals wach gewesen. War da was? Wahrscheinlich liegt es am Wetter. Bei gutem Wetter fällt die Revolution eben aus. Und für den Fall, daß es Winter ist, könnte es zu kalt sein dafür. Sie twittern, Mr. Snowden solle Asyl erhalten. Vor ein paar Wochen haben sie etwas anderes getwittert. Ach wissen Sie, man twittert so viel. Und die große Computerzeitschrift erklärt uns diese Woche, wie man seine E-Mails verschlüsselt. Alles so modern hier. Haben Sie was dagegen? Das ist die Zukunft. Oder schreiben Sie Ihre Briefe noch auf Papier?
In Deutschland geht es auf die Bundestagswahlen zu. In zwei Monaten ist es soweit. Das Wahlergebnis ist seit langem absehbar. Eine Opposition, die den Namen verdient, ist nicht erkennbar. Und der öffentliche Diskurs bewegt sich zwischen Unvermögen und Idiotie. Aufklärung war gestern. Freiheit auch. Dabei sind Grundrechte das einzige, was in einem Rechtsstaat wirklich alternativlos ist. Wenn es einer ist. Es werden wieder Umfragen durchgeführt. Die Nichtwähler werden immer mehr. Sehr langfristig gesehen.
007 wäre jedenfalls schon längst in Ecuador. Oder in Venezuela. Oder bei seiner derzeit Liebsten. Oder ganz woanders.