Etwas auslesen, zuende lesen, das gibt es nicht online. Ohne Ende, ohne Zahl. Immer ein weiterer Click ist möglich. Der Feedreader, die Timeline füllen sich immer wieder, und der Hypertext endet nie. Fragmentiert, muß man ihn sich zusammensetzen, zersplittert, zusammensuchen, montieren, konstruieren, rekonstruieren, dekonstruieren. Machen.
Irgendwie fängt man an und wurschtelt sich durch, stochert im Nebel herum, immer weiter. Wie in einem unendlich langen Behördenflur verliert man bald die Orientierung und läuft immer weiter an den immer gleichen Türen vorbei, ohne zu wissen, wo man jetzt gerade ist. Blättern geht zwar, bildschirmweise, aber die Paginierung ist nicht verbindlich, ist nicht vergleichbar, das ist nur bei mir so, bei anderen kann es ganz anders aussehen.
Die Gutenbergbibel machte es erstmals möglich, sich in Klöstern in verschiedenen Ländern Europas über ein und denselben Text zu verständigen, indem man sich auf die Seitenzahl bezog. Das ging bei Handschriften noch nicht, sie mußten abgeschrieben werden, waren Einzelstücke. Auf allen Seiten einer gedruckten Bibel derselben Auflage stand genau derselbe Text. Und heute? Man kann zwar immer noch blättern, aber die Seite als typographisch definierter Raum ist in den Webbrowsern und in den E-Book-Readern wieder abhandengekommen. Alles fließt, je nach Schriftgröße, Zeilenabstand, Fenstergröße. Geblieben ist die Randnummer, die Absatznummer, vielleicht.
Dabei ist die Orientierung im Text gleich mit verlorengegangen. Ein Text wie ein Behördenflur. Das Vorankommen im Text: dasselbe. Es gibt immer wieder einen Abweg, einen Umweg, man klickt sich weiter, ruft zusätzliche Informationen auf, wird abgelenkt durch die Bedienung der Technik, durch andere Programme, die andere Texte einwerfen, hinwerfen. Hingeworfenes. Definitionen, Subtexte, Hypertexte. Dabei geht der eigentliche Text unter. Nur das gedruckte Buch bietet ihn, weil es nur diesen Text enthält. Alles weitere ist Lesen, ist Denken, Menschenwerk.
Das lineare Lesen ist einfach, daher erholsam im Vergleich zum Hypertextlesen. Nur im linearen Lesen teilt sich ein Autor wirklich mit, lese ich wirklich einen anderen Autor und nur ihn. Und es führt am Ende auch zu einem Ende, zu einem richtigen Ende, auf der letzten Seite, die es so sonst gar nicht mehr gibt. Die man uns gestohlen hat mit der Digitalisierung. Mit dem Internet, das kein Ende kennt, in dem man immer weiterklicken und -surfen kann. Eine Welt ohne Ende: Fluch und Irrweg.
Eine kritische Theorie der Digitalisierung muß beim Aufhören anfangen. Bei der Abschaffung des Aufhörens. Bei der Abschaffung des Sendeschluß. Nicht nur beim Internet stehenbleiben. Muß fragen, warum nichts mehr abgeschaltet wird, warum es immer weiterläuft, warum die Pausenfilme aus dem Fernsehen verschwunden sind. Warum das Ausschalten durch Standby und Reboot ersetzt wurden. Warum das Ende verlorengegangen ist und wie man es wiederfinden könnte. Und was das alles bedeutet. Eine kritische Theorie der Digitalisierung muß sich auf die Suche machen nach dem verlorenen Ende, muß danach fragen, warum seitdem nichts mehr aufhört. Und wie man das Ende wieder finden könnte, denn das Ende ist gesund, ist lebensnotwendig. Ohne ein Ende ist alles nichts. Wer nicht aufhören kann, der kann auch nicht wirklich anfangen.
Hat dies auf ReBlog! Hier findet sich alles was mir gefällt. Über "Kategorie" wirds dann übersichtlich 🙂 rebloggt.
Das ‚immer weiter‘ im Netz ist auch der Grund dafür, das man immer beschäftigt ist. Das gilt nicht nur für das Lesen. Die Aufmerksamkeit reicht für den Teaser und das überträgt sich auch auf das Nichtvirtuelle (ein Beispiel dafür vielleicht ist Occupy).
Ein Mensch, nicht wissend von „Mormone“
Schaut deshalb nach im Lexikone
Und hätt es dort auch rasch gefunden –
jedoch er weiß, nach drei, vier Stunden
Von den Mormonen keine Silbe –
Dafür fast alles von der Milbe,
von Mississippi, Mohr und Maus:
Im ganzen „M“ kennt er sich aus.
Auch was ihn sonst gekümmert nie,
Physik zum Beispiel und Chemie,
Liest er jetzt nach, es fesselt ihn:
Was ist das: Monochloramin?
„Such unter Hydrazin“, steht da.
Schon greift der Mensch zum Bande „H“
Und schlägt so eine neue Brücke
Zu ungeahntem Wissensglücke.
Jäh fällt ihm ein bei den Hormonen
Er sucht ja eigentlich: Mormonen!
Er blättert müd und überwacht:
Mann, Morpheus, Mohn und Mitternacht.
Hätt weiter noch geschmökert gern,
Kam bloß noch bis zum Morgenstern
Und da verneigte er sich tief
Noch vor dem Dichter – und – entschlief.
(Eugen Roth)
Woher weißt Du, daß ich Eugen Roth mag? 😉