Am besten gedämpft

Es ist nicht ganz einfach, sich über Europapolitik zu informieren. Da aber die Europawahlen bevorstehen, hatte ich mich auf die Suche nach informativen Medien gemacht und mich fürs erste für eine Reihe von Feeds entschieden, die ich bei allem information overload noch zusätzlich verfolgen kann.

In meinem Feedreader lese ich derzeit sechs Quellen zum Thema regelmäßig mit, und zwar den persönlichen Feed sowie das Blog des Brüsseler taz-Korrespondenten Eric Bonse, die Europa-Seite und das Blog La bataille de Bruxelles in Le Monde, die Europa-Meldungen im Standard und die Artikel des Brüsseler Zeit-Korrespondenten Matthias Krupa.

Es gäbe noch mehr zu lesen, aber das soll genügen. Denn die Meldungen, die man in solchen Zeitungsrubriken und Blogs findet, wiederholen sich bisweilen. Im Mittelpunkt stehen seit Wochen im wesentlichen Gerüchte und Personalien zur Nachfolge des derzeitigen Präsidenten der Europäischen Kommission, die diesen Herbst – nach den Wahlen zum Europäischen Parlament – neu besetzt werden muß. Nach Art. 17 Abs. 7 S. 1, 2 EU-Vertrag schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament „mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“

Was machen „die Medien“ daraus? Ein eitles Schaulaufen, das es durchaus mit der Regenbogenpresse aufnehmen kann. Etwas abstrakter formuliert: Person A hat derzeit ein Amt inne. Sie wird dabei von der Gruppe G1 und den Politikern P1 und P2 unterstützt. P3 hätte gerne, daß das Amt von der Person B ausgeübt würde. Sie sucht sich dabei Unterstützung bei den Gruppen G2 und G3. Es folgen Namen von Politikern und Parteien, Präferenzen, angebliche Absprachen, Motive und Strippen, die gezogen werden.

Dabei gerät eines geflissentlich aus dem Blick: Das demokratische Defizit der ganzen Veranstaltung. Denn das Parlament mag den Präsidenten der EU-Kommission wählen – die Mitglieder der Kommission werden aber von den Regierungen im Europäischen Rat ernannt, „im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten“, nicht etwa durch das Parlament gewählt. Dieses hört die Kommissare an und kann schließlich nur die neue Kommission als ganzes, nicht aber einzelne Kandidaten für die Kommission ablehnen – was ziemlich unwahrscheinlich und nicht praktikabel sein wird. Hier bleibt also weiterhin die Exekutive unter sich. Das wird wohl mittlerweile resignativ als bekannt vorausgesetzt, so daß man es übergeht und sich auf die Weitergabe des aktuellen Spielstands beschränkt. Was dabei herauskommt, ist ungefähr so spannend wie die weichgespülten Lebensläufe, die in den Pressemitteilungen bei der Ernennung neuer Bundesrichter bekanntgegeben werden. Aalglatte Karrieren ohne Bruch und Schrammen. Wer auf Winkelzüge oder gar auf ein Spiel über Bande wartet, sollte besser Shakespeare lesen als diese Berichte über die derzeitige Europapolitik.

Bisweilen blitzen außer diesen Karrieremeldungen aber auch sogenannte „Sachthemen“ auf, die es dann freilich in sich haben. Die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA etwa, die so geheim geführt werden (hörenswerte Diskussion), daß sogar der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung darauf hinweist, daß die diesbezüglichen Auswirkungen auf die deutschen Sozialversicherungen (sic!) noch gar nicht absehbar seien und auf Seite 1 des diese Woche eingetroffenen Newsletters „DGUV Kompakt“ einwirft: „Wer geheim verhandelt, hat etwas zu verbergen!“

Die beiden letzten Links mögen zeigen, daß in der Europapolitik und im Europarecht auch weiterhin die wirklich interessanten Berichte und der aufschlußreichste „Content“ nicht in den Zeitungen oder in Blogs, sondern eher punktuell in Hintergrundstücken und in kleinen Depeschen zu finden ist, denen sich zuzuwenden aber ganz sicherlich lohnt. Den Rest muß man sich – ganz wie früher auch – aus Datenbanken und aus den mittlerweile schon etwas übersichtlicher gewordenen Seiten der EU heraus- und zusammensuchen. Im Vergleich dazu sind die laufenden Berichte nur ein Geräusch, das man am besten gedämpft verfolgen sollte. Aber das ist ja auch in anderen Bereichen vielfach das beste.

Den Newsletter der DGUV bekam ich übrigens nicht übers Internet herein, sondern ganz konventionell mit der Post.

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AfE-Staub

Wenn von der Sprengung des AfE-Turms in Bockenheim die Rede ist, wird eines verschwiegen: Der grobe hellgraue Staub, der sich über das ganze Viertel gelegt hat und der aufgewirbelt wird, wenn Wind geht. Bäume und Sträucher rund um den ehemaligen Standort des Turms waren von dem Dreck bedeckt, als ich mir die Baustelle über eine Woche nach der Sprengung ansah. Es ist ein besonders hartnäckiger Schmutz, der auch durch Regenfälle nicht abgewaschen wird, der auch mit dem Wind, der hier zwischen Messe und Senckenberg-Museum dauernd weht, nicht davonfliegt. Der Staub bleibt, auch wenn das Hochhaus gehen muß. Er ist nicht einfach abzuwaschen, er klebt fest und entschleunigt das Verschwinden des großen Hauses, das hier jahrzehntelang gestanden hat und in dem ich auch mal zwei Semester lang während meines BWL-Studiums Tutorien besucht hatte. Auch eine Woche danach ist der Schutthügel immer noch so hoch, daß es ganz sicherlich noch eine ganze Weile dauert, bis er ganz abgetragen sein wird.

Wirklich anfangen

Etwas auslesen, zuende lesen, das gibt es nicht online. Ohne Ende, ohne Zahl. Immer ein weiterer Click ist möglich. Der Feedreader, die Timeline füllen sich immer wieder, und der Hypertext endet nie. Fragmentiert, muß man ihn sich zusammensetzen, zersplittert, zusammensuchen, montieren, konstruieren, rekonstruieren, dekonstruieren. Machen.

Irgendwie fängt man an und wurschtelt sich durch, stochert im Nebel herum, immer weiter. Wie in einem unendlich langen Behördenflur verliert man bald die Orientierung und läuft immer weiter an den immer gleichen Türen vorbei, ohne zu wissen, wo man jetzt gerade ist. Blättern geht zwar, bildschirmweise, aber die Paginierung ist nicht verbindlich, ist nicht vergleichbar, das ist nur bei mir so, bei anderen kann es ganz anders aussehen.

Die Gutenbergbibel machte es erstmals möglich, sich in Klöstern in verschiedenen Ländern Europas über ein und denselben Text zu verständigen, indem man sich auf die Seitenzahl bezog. Das ging bei Handschriften noch nicht, sie mußten abgeschrieben werden, waren Einzelstücke. Auf allen Seiten einer gedruckten Bibel derselben Auflage stand genau derselbe Text. Und heute? Man kann zwar immer noch blättern, aber die Seite als typographisch definierter Raum ist in den Webbrowsern und in den E-Book-Readern wieder abhandengekommen. Alles fließt, je nach Schriftgröße, Zeilenabstand, Fenstergröße. Geblieben ist die Randnummer, die Absatznummer, vielleicht.

Dabei ist die Orientierung im Text gleich mit verlorengegangen. Ein Text wie ein Behördenflur. Das Vorankommen im Text: dasselbe. Es gibt immer wieder einen Abweg, einen Umweg, man klickt sich weiter, ruft zusätzliche Informationen auf, wird abgelenkt durch die Bedienung der Technik, durch andere Programme, die andere Texte einwerfen, hinwerfen. Hingeworfenes. Definitionen, Subtexte, Hypertexte. Dabei geht der eigentliche Text unter. Nur das gedruckte Buch bietet ihn, weil es nur diesen Text enthält. Alles weitere ist Lesen, ist Denken, Menschenwerk.

Das lineare Lesen ist einfach, daher erholsam im Vergleich zum Hypertextlesen. Nur im linearen Lesen teilt sich ein Autor wirklich mit, lese ich wirklich einen anderen Autor und nur ihn. Und es führt am Ende auch zu einem Ende, zu einem richtigen Ende, auf der letzten Seite, die es so sonst gar nicht mehr gibt. Die man uns gestohlen hat mit der Digitalisierung. Mit dem Internet, das kein Ende kennt, in dem man immer weiterklicken und -surfen kann. Eine Welt ohne Ende: Fluch und Irrweg.

Eine kritische Theorie der Digitalisierung muß beim Aufhören anfangen. Bei der Abschaffung des Aufhörens. Bei der Abschaffung des Sendeschluß. Nicht nur beim Internet stehenbleiben. Muß fragen, warum nichts mehr abgeschaltet wird, warum es immer weiterläuft, warum die Pausenfilme aus dem Fernsehen verschwunden sind. Warum das Ausschalten durch Standby und Reboot ersetzt wurden. Warum das Ende verlorengegangen ist und wie man es wiederfinden könnte. Und was das alles bedeutet. Eine kritische Theorie der Digitalisierung muß sich auf die Suche machen nach dem verlorenen Ende, muß danach fragen, warum seitdem nichts mehr aufhört. Und wie man das Ende wieder finden könnte, denn das Ende ist gesund, ist lebensnotwendig. Ohne ein Ende ist alles nichts. Wer nicht aufhören kann, der kann auch nicht wirklich anfangen.