Vergiß es

Natürlich ist das erst der Anfang. Das Recht auf Vergessenwerden, das der Europäische Gerichtshof gerade gegenüber Google ausbuchstabiert hat, wird sich noch ausweiten. Erst trifft es den Nachweis einer Nachricht, die besser schon längst vergessen gewesen wäre, dann trifft es die Nachricht selbst und deren Ort. Die Digitalisierung der Archive verträgt sich nicht mit dem menschlichen Maß der Zeit. Die Daten sind unsterblich und halten uns an sich fest, stellen sich dem Weiterleben in den Weg. Und dem Versuch, das Ende der Privatheit als post privacy zu verklären, waren denn doch die meisten nicht gefolgt.

Vorausschauend handeln heißt, datensparsam handeln. Heißt nicht öffentlich handeln. Also ohne das Internet. Offline.

Etwas weniger radikal: Zumindest ohne soziale Netzwerke, ohne Blogs, ohne Wikis. Noch weniger radikal: Ohne eigene Beiträge in diesen. Ohne eigene Website. Ohne aktive Beteiligung an Mailinglisten und Webforen. Das alles sind Clouds, die in den allermeisten Fällen außerhalb des Geltungsbereichs des europäischen Rechts gehostet werden.

Es betrifft natürlich auch solche ansonsten unverdächtigen Plattformen wie Wikipedia, wo sie selbst speichern, wann ich als eingeloggter Benutzer welche Seiten, die auf meiner Beobachtungsliste stehen, zuletzt abgerufen habe. Der Protest dagegen bei der Einführung dieses Features verhallte vor zwei Jahren ungehört. Das sei ja so praktisch. Und überhaupt: Die blöden Europäer.

Vorausschauend handeln heißt, dem Profiling etwas entgegenzusetzen. Und tatsächlich mehren sich diese Stimmen in meinem Feedreader. Die nicht mehr besinnungslos drauflosposten wollen und die auch für ihre Clouddienste europäische Server auswählen oder wieder ganz auf lokale Lösungen setzen. So wird der Late Adopter, der sich diesem ganzen neumodischen Kram gegenüber von vornherein verschlossen zeigte, auf einmal wieder ganz vorne sein. Sonst warte man doch auch nicht auf irgendwelche Gerichte oder auf Ausschüsse, man entscheide selbst, daß es jetzt an der Zeit sei, vegetarisch oder vegan zu essen. Gemüse-Reis-Pfanne statt Steak-Haus. So fängt es hier jetzt auch an. Es gibt Alternativen.

Damit endet aber auch eine Vision: Das Netz als weltweiter virtueller Marktplatz, als virtuelle Abbildung einer globalen Zivilgesellschaft, in der eine grenzenlose Interaktion stattfinden kann, die es offline nicht geben würde oder die überhaupt eine andere, höhere Qualität haben würde als offline. Zum einen stimmte das nie, zu keinem Zeitpunkt übrigens, wie schon die amerikanischen Debatten (zu Pro-Life, Pornographie, Kreationismus…) zeigen, die uns in der englischen Wikipedia bis in die hintersten Winkel von Artikeln erwarten, wo man sie nie vermutet hätte. Mit dem Austausch ist es bis heute nicht weit her, und das wird sich auch nicht ändern, denn allein die Vielfalt der Sprachen sorgt schon dafür, daß es auf Dauer auch weiterhin Communities gibt, die sich hart voneinander abgrenzen (der ideologische Aspekt wird beim Sprachenlernen gemeinhin viel zu wenig beachtet). Zum anderen wird Online aber auch immer mehr als Gefahr empfunden. Wird kritisch überprüft, abgeklopft. Das bleibt letztlich inkonsequent, siehe oben.

Und doch: Ein einstmals weiter, sich weitender Raum – der „Cyberspace“, was ja auch nur so eine Frontier-Metapher der Netzkultur war – verengt sich wieder, wird dunkler und unattraktiv. Verschwindet. Man wendet sich davon ab und zieht sich daraus zurück. Man überläßt ihn zunehmend den Geschäftemachern und nutzt ihn vor allem abrufend, passiv. Was natürlich ein unauflösbarer Widerspruch ist: Alle sind ständig am Googlen, aber von mir selbst soll da möglichst wenig erscheinen – wie soll das gehen? Es ist eigentlich ganz einfach: Vergiß es.

Werbung

„Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt

Leider etwas spät erst komme ich dazu, über „Esprit Montmartre“ in der Schirn Kunsthalle zu schreiben. Kuratorin Ingrid Pfeiffer hatte angekündigt, die „Belle Epoque“ zu dekonstruieren:

Die Ausstellung hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits wirklich wunderbare Bilder (vor allem van Gogh, und immer wieder Picasso und Valadon), auf sieben Räume verteilt (Stadtgeschichte, Bordelle und Akte, soziale Frage, Zirkus-Szenen, Plakatkunst, Künstlerszene) andererseits viel zuviele kleine Arbeiten, neben denen die großen Werke buchstäblich deplaziert wirkten – vor allem wegen einer katastrophalen Hängung in der Schirn, die ihrem Ruf als „längste Kegelbahn der Welt“ diesmal wirklich gerecht wurde. Viel zu eng bespielt durch die zusätzlichen langgezogenen Stellwände in der Mitte des Raums. Alles wirkte auch kahl und insgesamt überladen. Halb soviele Bilder wären hier eindrucksvoller gewesen.

So ging beinahe auch der Anlaß dafür unter, warum Frauen auf Montmartre sich überhaupt prostituiert haben: Es war für eine Frau damals kaum möglich, von einem bürgerlichen Beruf auskömmlich zu leben. Frauen wurde einfach ein sehr viel niedrigerer Lohn als Männern gezahlt. Das wurde eher beiläufig in einem kleinen Text mitgeteilt, an dem die meisten vorbeigegangen sein dürften. Man hätte es sich in einem der großen Wandtexte gewünscht, denn es ist wichtig, um die zahlreichen Bordellszenen, die gezeigt wurden, einordnen zu können.

Vor allem aber: Dies alles unter der Überschrift „Esprit“? Da wurde wohl doch versucht, den Mythos weiterzuspinnen, der von der ganzen Anlage her doch gar nicht zu der Schau passen konnte. Ein Tanz auf dem Vulkan, inmitten von Armut, Krankheit und sozialer Ungerechtigkeit.

Wo lagen dagegen die Stärken der Ausstellung? Die Plakatkunst (Leihgaben der Kunsthalle Bremen), aber auch die historischen Photos und die Dokumentation des Stadtteils waren sehr sehenswert. Auch interessant waren die Künstlerbiographien in der Rotunde mit einem Stadtplan, auf dem Wohnungen und Ateliers der Künstler markiert waren sowie die Cabarets.

Auf Gallica kann man übrigens auch durch einige sehr schöne historische Aufnahmen des Montmartre blättern.

„Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900.“ Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main. Noch bis 1. Juni 2014.

Europawahl 2014

Damit ich es nicht vergesse: Am Ende des Wahlkampfs noch mal rechts blinken und rassistisch rechts überholen, was Sozialleistungen für EU-Ausländer angeht. „Europa ist keine Sozialunion“, hat sie gesagt. Auf dem Weg von zuhause zum Wahllokal kein einziges Wahlplakat. Dann: Abseits vom Eingang zur Schule, da hinten, kaum sichtbar hinterm Zaun, beinahe versteckt: Je ein unscheinbares Plakat der Grünen und der CDU. So wenig war noch nie los wie an diesen Sonntag. Und warum hörte man eigentlich seit dem 1. Mai nichts mehr vom EFSM, dessen Mittel seitdem schon aufgebraucht waren? Darum ging es doch, unter anderem. In meinem Wahlbezirk nahmen 300 von 1300 Wahlberechtigten an der Wahl teil. Die Statistik lügt. Gezielte weitere Demobilisierung. Und Europa rückt insgesamt massiv nach rechts. In Frankreich ein Viertel aller Stimmen für die Rechtsextremisten. Herrschaftszeiten.

Wikipedia-Maschinenraum an Elfenbeinturm

Ein kurzer Zwischenruf aus dem Maschinenraum in Richtung Elfenbeinturm ist angezeigt.

Über Archivalia erfahre ich, daß Thomas Wozniak von der Universität Marburg nebenan im Mittelalter-Blog auf hypotheses.org vorgeschlagen hat, Wikipedia-Artikel in wissenschaftlichen Arbeiten zu zitieren, wenn ihr „Hauptautor“ zu ermitteln wäre.

Der Blogpost war angeregt worden durch ein neues Tool, das Benutzer APPER vor ein paar Wochen bereitgestellt hatte. Das Skript WikiHistory wertet die Versionsgeschichte von Wikipedia-Artikeln aus und erlaubt daher Angaben über die mengenmäßigen Anteile, die die jeweiligen Autoren zu der letzten Version des Texts beigetragen haben. Man kann dieses Skript im eigenen Benutzernamensraum durch schlichten Eintrag in die eigene common.js aktivieren. Das JavaScript blendet dann oberhalb eines Artikels die jeweiligen statistischen Angaben ein. Wer es ausführlicher haben möchte, sei auf die entsprechende Version auf WMFLabs verwiesen.

Was ist dazu zu sagen? Zunächst zu WikiHistory: Für mich als Wikipedia-Autor ist WikiHistory eine wertvolle und überfällige Lösung, die es mir erlaubt, schnell zu überblicken, welche Kolleginnen und Kollegen an einem bestehenden Artikel bereits gearbeitet haben – im positiven wie im negativen Sinne. Pessimistisch gewendet, kann man damit potentiellen Problembären – das heißt: Konflikten – aus dem Weg gehen, optimistisch gesehen kann man aus der Autorschaft Rückschlüsse auf die Qualität des Artikels ziehen, wenn man darüber informiert ist, wie die bisherigen Autoren sonst in Erscheinung getreten sind. Dafür konnte man bisher auf eine ähnliche Auswertung auf dem Portal Wikibu zurückgreifen, wo ebenfalls die wichtigsten Autoren eines Artikels angezeigt wurden, aber eben sehr viel kruder. Einem Nur-Leser von Wikipedia, der über die Autorengemeinde nicht so gut im Bilde ist, werden die Prozentzahlen dagegen insoweit kaum weiterhelfen, ihm erleichtert das Tool lediglich die überschlägige Abschätzung der Angaben in der Versionsgeschichte des Artikels. Im übrigen bewertet das Werkzeug nur den Anteil der Textmenge in Bytes gemessen. Qualitative Aussagen über die redaktionelle Leistung von Autoren, über die Lesbarkeit des Texts usw. bleiben außen vor.

Kann dieses Tool nun für die Zitierfähigkeit von Artikeln fruchtbar gemacht werden? Dazu sollte man zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen die Frage, ob man wissenschaftliche Arbeiten auf Wikipedia stützen kann, zum anderen die Frage, ob die Autorenangaben aus WikiHistory einen Artikel „zitierfähiger“ machen als er ohnehin schon ist – oder eben nicht ist.

Wikipedia eignet sich als Beleg für wissenschaftliche Arbeiten genaugenommen nur in einer Hinsicht: Man kann damit zeigen, was die Gruppe der Wikipedianer, die sich mit einem Thema beschäftigen, in einer bestimmten Zeit zustandegebracht hat. Was sie an Belegen zusammengetragen haben, welche möglichst „neutralen“ Aussagen ihnen zu dem Thema eingefallen sind, welche Diskussionen sie dazu geführt haben. Mehr nicht. Eine Aussage darüber, ob das, was man dort vorfindet, zutreffend ist oder nicht, wird erst möglich sein, wenn der Leser eigene Forschungen zu dem Thema durchgeführt hat.

Ändert sich dadurch etwas, wenn wir den „Hauptautor“ eines Artikels kennen? Das ist derjenige, der den Artikel laut WikiHistory ganz überwiegend geschrieben hat. Nicht wirklich. Auch für diesen Fall gelten die gleichen Prämissen wie zuvor, nur mit der Maßgabe, daß man jetzt eben erfährt, was sich der „Hauptautor“ überlegt hatte, als er den Artikel schrieb.

Wäre es anders, wenn der „Hauptautor“ über einen Account arbeitet, der einen „natürlich“ klingenden Namen trägt? Wozniak meint, dadurch werde ein Artikel wissenschaftlich zitierbar, weil seine Urheberschaft dann feststehe. Als Beispiel nennt er Artikel, die der Account „Benutzer:Frank Schulenburg“ angelegt hatte. Auch das führt indes zu keiner anderen Bewertung, denn auch die Behauptung eines Autors, unter seinem Realnamen in Wikipedia zu arbeiten, läßt für den Außenstehenden regelmäßig nicht den Schluß zu, daß dahinter tatsächlich eine bestimmte Person stehe. Wikipedia kennt kein Verfahren, um sicherzustellen, daß die digitale Identität eines Accounts bzw. eines Accountnamens mit der natürlichen oder der rechtlichen Identität einer Person übereinstimme. Das gilt übrigens auch und gerade für das Verfahren der sogenannten Verifizierten Accounts, über die Institutionen und sonstige Benutzer an Wikipedia teilnehmen. Mit anderen Worten: Jeder kann sich in Wikipedia unter dem Namen „Helmut Schmidt“ anmelden. Dahinter kann sich ohne weiteres Angela Merkel verbergen. Oder in den Worten von Paul Steiner: On the Internet, nobody knows you’re a dog.

Michael Schmalenstroers Argument zu dem immer und jederzeit zitierfähigen Pseudo-Xenophon tritt freilich hinzu. Ich wüsste ebenfalls „nicht, warum man die Zitierfähigkeit eines Wikipedia-Artikels davon abhängig machen sollte, ob man einen Hauptautoren mit Klarnamen ausfindig machen kann.“ Entscheidend ist, ob das, was da steht, stimmt oder nicht.

Der kompetente Umgang mit Quellen ist eben doch etwas schwieriger als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wobei zuzugeben ist, daß die Zusammenhänge zwischen Technik und Bedeutung bei kollaborativ erstellten Texten durchaus noch der Ausarbeitung harren. Bis zu einer wirklich aussagefähigen Theorie des Wikis oder des Web 2.0 ist es bisher nicht gekommen, sie steht noch aus. Man denke nur an die Klimmzüge, die manche Gerichte vollzogen haben, wenn es darum ging, ob das Setzen eines Links auf eine andere Website dazu führe, daß man sich die dortigen Inhalte „zu eigen macht“.

Diese und ähnliche Gedanken hätte d. Verf. gerne in den Kommentaren des Mittelalter-Blogs geäußert, sein Beitrag ist dort aber leider nicht freigeschaltet worden. So kam es zu dieser etwas ausführlicheren Erwiderung.

Das Spiegel-Archiv schließt

Michael Schmalenstroer wies schon vor fünf Tagen in seinem Blog darauf hin, dass das Spiegel-Archiv demnächst hinter einer Paywall verschwinden werde. Er schlußfolgert:

„Zu vielen Themen wird die Recherche wieder deutlich erschwert, reihenweise Wikipedia-Belege verlieren ihren direkten Nutzwert.“

Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang, denn auch FAZ, Zeit und Süddeutsche haben, wie man hört und bisweilen liest, ihre Internetauftritte nach und nach modernisiert und fürs Abkassieren nach unterschiedlichen Modellen fitgemacht.

Nachdem also die Print-Archive in den Bibliotheken immer mehr durch Online-Archive ersetzt worden sind und ebendiese in einem weiteren Schritt durch die immer engere Eingrenzung des Benutzerkreises immer wenigeren noch zur Verfügung stehen, gewinnen Zugänge zu kostenpflichtigen Online-Archiven immer mehr an Bedeutung für Wikipedianer. Um zu verhindern, dass hochwertige Information unter digitalen Bedingungen nicht noch exklusiver wird, als sie es früher auf Papier je gewesen ist.

Diaspora ade

Nachdem ich bereits im Jahr 2010 Facebook verlassen hatte und mich 2012 auch von Xing verabschiedete, war 2013 Twitter an der Reihe. Etwa in diesem Zeitraum muß ich wohl auch meinen Google+-Account geschlossen haben. Darüber hatte ich anscheinend schon gar nicht mehr geschrieben; jedenfalls finde ich dazu keinen Post mehr. Heute habe ich meinen letzten noch verbliebenen Social-Media-Account deaktiviert, den ich vorläufig noch testweise belassen hatte: Auch auf Diaspora bin ich nun nicht mehr zugange. Warum? Ich habe Diaspora ein gutes halbes Jahr lang nicht genutzt, und ich vermisse nichts. Warum erst jetzt? Aus Inkonsequenz. Aber das kann man ja ändern.

Damit geht gleichzeitig ein mehrere Jahre dauerndes Experiment mit den sozialen Netzwerken zuende. Es war eine interessante Zeit, ich habe den Übergang von einem freien Netz, wo wir uns vorwiegend im Usenet und in den Mailinglisten ausgetauscht hatten, hin zu einem jederzeit überwachten, zentralisierten und vollständig durchkommerzialisierten Netz miterlebt. Ich habe den Shift von der Kommunikation zwischen den Netizens in den digitalen Kanälen hin zu Datenkranken und Datenhändlern verfolgt. Das war eine wichtige Erfahrung, denn man muß die Unterschiede zu früher selbst erlebt haben, um ermessen zu können, welche Chancen dabei über die Jahre Schritt für Schritt verlorengegangen sind. Die Geschäftemacher haben den Cyberspace übernommen, und die breite Masse, die sich dort jetzt bewegt, meint, das wäre das Netz. Aber es ist nur die Erfahrung der Lemminge.

Geblieben sind ein paar Test-Accounts, die ich benötige, um mich über die Entwicklung auf den kommerziellen Plattformen zu Schulungszwecken auf dem laufenden zu halten, sowie mein Blog, und natürlich werde ich mir darüber Gedanken machen, ob es noch angezeigt ist, es bei einem hosted service zu belassen oder in Zukunft selbst zu betreiben. In der letzten Zeit neige ich eher zu letzterem, aber das eilt nicht.

Wichtig ist, auf den Wandel im Netz zu reagieren und beweglich zu bleiben. Jederzeit gehen zu können, wenn der Steuermann ruft – und tatsächlich zu gehen, wenn es soweit ist. Beim Anblick dieses digitalen Biedermeiers frierts mich vor Gemütlichkeit. Wie bin ich froh, daß ich weg bin!