Das mit den Ehrengästen der Frankfurter Buchmesse ist ja so eine Sache. Nehmen wir Brasilien im vergangenen Jahr. Oder Neuseeland. Zehn Minuten Nachrichten von Radio New Zealand waren aufschlußreicher als alles, was damals von Buchverlagen und Feuilletons hierher transportiert wurde. Von den arabischen Ländern blieb immerhin eine bemerkenswerte Neuübersetzung der Märchen aus Tausendundeiner Nacht zurück, die über den Tag hinaus Bestand hat.
Und nun also Finnland. Und die Frankfurter Ausstellungshäuser bereiten darauf vor. Zuerst der Frankfurter Kunstverein mit einer Ausstellung, die acht finnische Gegenwartskünstler bzw. Künstlerduos mit Arbeiten vorstellt, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Thema „Zeit“ auseinandersetzen: „Matters of Time. Artists from Finland.“ Drei Werke bzw. Räume sind herauszugreifen:
Gleich am Eingang wird man von einem tosenden Rauschen empfangen, das von einer quadratischen Tischplatte ausgeht, auf der sich, wie das Begleitheft zu der Ausstellung erzählt, mehrere tausend Stahlkugeln befinden. Der Tisch wird ständig von einer darunter montierten Mechanik bewegt, so daß die Kugeln immer wieder in Bewegung geraten und dabei wie eine Welle am Strand der Schwerkraft folgend herumrollen. Keine der Kugeln springt von der Tischplatte. Sie kommen in Bewegung und ordnen sich daraufhin regelmäßig, fast mit einem kristallinen Muster, neu an, bis sie, durch die Bewegung des Tischs wieder in eine andere Richtung weiterrollen. Das dabei entstehende tosende Geräusch der „Unstable Matter“ von Tommi Grünlund und Petteri Nisunen dringt durch das ganze Treppenhaus bis in die oberen Stockwerke und hält den Betrachter fasziniert fest.
Im ersten Stock ist die Video-Installation „Round“ von Elena Näsänen zu sehen, auf der zwei Darsteller, ein Mann und eine Frau, auf zwei nebeneinander aufgestellten Bildschirmen exakt dieselben Ereignisse spielen, die sich in einer fünfminütigen Endlosschleife wiederholen: Nach einem einsamen Barbesuch geht man betrunken hinaus auf die Straße ins grelle Sonnenlicht und stolpert die Straße und einen Bauzaun entlang. Man fällt hin, richtet sich wieder und erreicht nach mehrmaligem Abbiegen um den Block wiederum die Bar, in der alles begann, und in sich nun auch alles wiederholt.
Der Film zeigt Periodizität, auch Ausweglosigkeit und Stillstand, zumal auch die Zeit auf den Bildern immer dieselbe bleibt. Man ergänzt beim Betrachten unwillkürlich den Wunsch, es möge diesmal anders ausgehen, die Frau oder der Mann mögen sich diesmal anders verhalten, sie mögen einen anderen Weg nehmen oder er möge etwas anderes erleben als sie. Aber diese Hoffnung auf Variation und Abweichung, auf einen Ausweg aus diesem Kreis wird enttäuscht. Es scheint sich um eine Art Wiederholungszwang zu handeln, den kein Protagonist durchbrechen kann.
Ganz oben auf der zweiten Etage rechts sollte man sich etwas mehr Zeit nehmen für zwei große Videoarbeiten des Duos IC-98. Visa Suonpää und Patrik Söderlund, die für die Teilnahme an der Venedig Biennale 2015 nominiert worden sind, zeigen ausgesprochen stimmungsvolle und menschenleere Zeichentrickanimationen zu gravitätischer Musik, beides dunkel und trist gehalten. Wenn man sich darauf einläßt, wird man mit einem Reichtum an grafischen Details belohnt, den man zuerst nicht bemerkt oder auch nur geahnt hätte – und tatsächlich dürfte er den meisten Besuchern entgehen, die den Raum nur kurz betreten und danach schnell wieder verlassen, als würde hier gar nichts geschehen. Gerade darum geht es in den Filmen.
Während „Arkhipelagos (Navigating the Tides of Time)“ ein endlos wogendes Meer zeigt, auf dem Flöße mit Masten in orientierungsloser Drift zeitlos, richtungslos und schutzlos treiben, verarbeitet „A View from the Other Side“ die wechselvolle Geschichte eines Gebäudes in Turku im Süden Finnlands, das aufgebaut wurde, vielen verschiedenen Zwecken diente und dabei schließlich immer mehr verfiel, so daß die Natur die Szene am Ende ganz übernimmt. Beide Filme werden raumgreifend groß und in guter Qualität projiziert, dazu ertönt eine Improvisation, die auf der Orgel der Kathedrale von Turku gespielt wurde. Dieser 70-minütige Film ist eine kunstvolle große Meditation zum Thema Zeit, Werden und Vergehen, Übergänge, Anfänge und Untergänge. Sie enthält viele Anspielungen auf gesellschaftliche Abläufe, und sie führt den Betrachter am Ende zu sich selbst. Kaum merklich schleicht sich Veränderung ein, die man zuerst kaum bemerkt, die dann aber schnell das ganze Bild dominiert, bis die nächste Veränderung ihr folgt.
Beide Filme sind auch im Vimeo-Kanal der Künstler in voller Länge zu sehen, können aber in andere Websites nicht eingebunden werden. Wegen der technischen Qualität der Aufführung und der Stimmung im Raum lohnt es sich unbedingt, sie in der Ausstellung zu betrachten.
Der Besucher sei übrigens gewarnt: Nehmen Sie sich einen warmen Pullover mit, wenn Sie in den Frankfurter Kunstverein gehen! Die Klimaanlage meint es nämlich ernst.
Matters of Time. Artists from Finland. Im Frankfurter Kunstverein. Steinernes Haus am Römerberg. Bis 12. Oktober 2014. – Pressetext.