Vergangene Woche hat es eine Veränderung bei einem der besseren deutschen Autorenblogs gegeben, die nicht nur mich hat aufhorchen lassen. Über die Vorgänge gibt es widersprüchliche Mitteilungen des Carta-Fördervereins einerseits und der bisherigen Redakteure Vera Bunse und Wolfgang Michal andererseits. Als nur gelegentlicher Carta-Schreiber war ich bei alledem nicht live dabei, aber nach mehrfachem Lesen scheinen auch mir die Gegendarstellung im Blog von Vera Bunse und die Stellungnahme von Wolfgang Michal zu ihrer gemeinsamen Absetzung letztlich plausibler zu sein als die Darstellungen des Fördervereins bzw. der neuen Redaktion.
An der Entwicklung von Carta interessiert mich der Einzelfall inmitten einer sich ausdifferenzierenden Blogosphäre in Deutschland.
Das Nachdenken und die Berichterstattung über den „digitalen Strukturwandel“, über Szenen und Technik, ist im Mainstream angekommen. Unter diesen Umständen kann es kein Blog mehr geben, das den Anspruch erhebt, hierfür sozusagen eine Agentur zu sein, wo etwas Besonderes sich abspielt oder das sich sonst vom Rest der Debatte abheben würde. Raum für Analyse und Kritik wird freilich immer benötigt und ist infolge der zunehmenden Kommerzialisierung der Blogosphäre immer schwerer zu finden. Aber, es stimmt, die Verhältnisse sind heute anders als im Geburtsjahr von Carta 2008, von den beteiligten Personen und der Organisation dahinter ganz abgesehen.
Die Produktionsbedingungen für anspruchsvolle Inhalte haben sich aber kaum geändert. Hier liegt fast alles immer noch im prekären Bereich. Internet ist nichts wert, wirft nichts Nennenswertes ab, bleibt hinter den Möglichkeiten und der Wertschätzung von Print zurück, hat dementsprechend zwar ungleich mehr Leser, aber auch sehr viel geringeres Prestige. Wenn das Wort „Blog“ oder die Bezeichnung „Blogger“ fällt, denkt man denn auch eher nicht an anspruchsvollere Projekte, sondern an den Normalfall: An das Rezepteblog der Nachbarin oder an die Notizen über das Sommerfest vom Ortsverein. Die Aussage „Ich bin Blogger“ setzt einen – abseits vom Netz-Milieu der Piraten oder vielleicht noch der Journalisten – eher dem Verdacht aus, zu den paar Zeitreichen zu zählen, die, aus welchen Gründen auch immer, Zeit und Gelegenheit haben, ein Blog zu betreiben, wie andere ganze Wikis vollschreiben. Vor hundert Jahren hätte man an den Müßiggänger gedacht, der sich herumtreibt, ohne recht was zu erschaffen. Die Karikatur eines Spießerschrecks.
Und da wird nun also reflektiert, was die Gesellschaft bewegt, in einem Blog? Ja, wo sonst? Da ist das alles entstanden, was die Etablierten heute übernommen haben, siehe oben. Aber gibt es dort heute noch Neues zu entdecken? Nein, dort auch nicht mehr. Und das ist nicht nur das Problem von Carta, sondern es ist das Problem der Blogosphäre heute insgesamt. Wir sind normal geworden. Wir haben uns schon längst ausgebloggt. Wir haben alles schon mal geschrieben, alles schon mal gedacht. Alles schon mal ausprobiert. Und wir können davon immer noch nicht leben, sondern wir gehören zu den Überzeugungstätern und zu den Zeitreichen. Kann unter diesen Umständen noch Analyse und Kritik überhaupt stattfinden wie früher einmal? Das ist zumindest schwerer geworden. Dabei geht es nicht um einen Trend, sondern es geht um einen neuen Abschnitt im Entwicklungszyklus. Ebenso wie Wikis haben auch Blogs einen Lebenszyklus, in dem sich Krisen und Verwerfungen ergeben können und die es notwendig machen, sich neu zu erfinden. In denen also ein „schöpferischer Sprung“ in dem Sinne, wie es Verena Kast einmal gesagt hatte, nicht nur erfolgen kann, sondern unter bestimmten Bedingungen unbedingt erfolgen muß, damit es weitergeht. Sonst bleibt man stehen und fährt sich fest in der Krise und erstarrt.
Wer nicht mehr über sich selbst reflektiert, der erstarrt mit der Zeit. Oder er verfällt in eine autoritäre Haltung, wie sie gerade die Community der Wikipedia gespalten hat. Auch dort hatte es gerade einen Führungswechsel gegeben, die Betreiberin, eine kalifornische Stiftung, hat eine neue Geschäftsführerin eingestellt, und sie wollte der Community wohl einmal zeigen, wie gut neue Besen kehren können. Ohne viel Federlesens, wurde in die Software ein „Superprotect“-Recht eingebaut, innerhalb weniger Stunden während der alljährlichen Wikimania-Tagung, die diesen August in London stattfand, ist das geschehen. Und dann wurde die lokale Community vor vollendete Tatsachen gestellt: Die gewählten Administratoren konnten eine bestimmte Seite nicht mehr bearbeiten. Leonhard Dobusch hat dazu in Erinnerung an Carl Schmitt gesagt: „Wenn Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, dann bedeutet das im Kontext der Wikipedia also offensichtlich: Souverän ist, wer über Root-Zugriff verfügt.“ So ist das mit dem Aussperren des treuesten Personals. Seitdem hat eine Abstimmung mit den Füßen begonnen, und immer mehr regelmäßige Autoren verlassen das Projekt oder verstummen zumindest. Das wirkt sich schon jetzt auf die Qualität aus: Seiten bleiben ungesichtet, die QS funktioniert nicht mehr wie früher, es wird auch längerfristig nicht ohne Folgen für den Inhalt bleiben, und das wird dann auch dem normalen Leser auffallen.
Wikis und Blogs sind vor allem Knoten im Netz, und diese funktionieren entweder oder sie funktionieren nicht. Um zu funktionieren, braucht es eine kritische Masse an Besuchern und Teilnehmern. Es braucht Bewegung. Es braucht Surfer, die die Knoten nutzen. Ist ein Knoten im Netz einmal tot, kann er nicht wiederbelebt werden. Keiner weiß, warum das so ist, aber ein Gegenbeispiel für diese Regel ist bis heute nicht bekannt geworden. Dagegen ist die Geschichte des Webs voll von Erinnerungen an einstmals funktionierende Knoten: LiveJournal, MySpace, StudiVZ, und wie sie alle hießen.
War Carta in diesem Sinne ein funktionierender Knoten? Es gab Abrufe, sicherlich. Es gab auch Content. Aber es gab immer weniger gute Kommentare. Die Debatten, die dort früher geführt worden waren, sind Vergangenheit. Das gilt aber nicht nur für Carta, sondern für die Blogosphäre insgesamt. Schon im Gründungsjahr von Carta nannte der Netztheoretiker Geert Lovink sein „Berliner“ Buch über die Blogs „Zero Comments“. Aber das ist so ähnlich wie bei der Wikipedia: Es geht immer noch weniger, auch wenn es schon lange nachgelassen hatte. Wir haben also auskommentiert. Es ist vorbei. Wir schreiben nur noch weiter, ungefähr so, wie das Orchester auf der Titanic bis ganz zum Schluß immer weiter gespielt hatte. Ob sich die Musiker dabei zu einem bestimmten Zeitpunkt ein neues Design verpaßt hatten, ist nicht überliefert. Ich habe gerne etwas beigetragen, als die Redaktion bei mir anfragte. Nicht alles, was ich auf Carta gelesen hatte, hatte mir gefallen, einige Mißtöne waren darunter, vieles, was mir viel zu bürgerlich daherkam. Aber mitunter war es doch nicht die schlechteste Musik.