Schreiben auf dem Smartphone

Nate Hoffelder referiert in The Digital Reader drei Beiträge über Autoren, die auf Smartphones schreiben. Unmittelbarer Anlaß für den Blogpost war der bevorstehende National Novel Writing Month – und eine entsprechende Werbekampagne von Blackberry. Erwähnt werden der britische Journalist Geordie Greig, der zwei Jahre lang auf einem Blackberry getippt haben will, der Neuseeländer Peter King, der einen 1500-seitigen Wälzer auf einem HTC auf dem Weg zur Arbeit geschrieben haben soll, und der Amerikaner Peter Brett, so heißt es, habe in der U-Bahn geschrieben. Es handelt sich dabei um Erstlingswerke, und die Arbeit an ihnen soll jeweils mehrere Jahre gedauert haben. In den Kommentaren wird darauf hingewiesen, daß man Texte auch unterwegs in ein Smartphone diktieren könne.

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Nachdenken über die Frankfurter Buchmesse 2014

Der Blick in Halle 8.0 zeigt den Umbruch im Verlagswesen sehr deutlich. Läuft man durch die englischsprachige Halle, ist man in einer anderen Welt als auf der übrigen Frankfurter Buchmesse. Und doch hat das, was man hier sieht, mit dem Rest auf dieser Messe und mit der Welt da draußen etwas zu tun.

Alles wirkt hier noch etwas kahler, etwas nüchterner, kälter auch. Man kann auch sagen: Seelenlos. Die verlegerische Klassengesellschaft könnte nicht deutlicher sein. Konzerne wie Wiley oder Random House bauen ganze Stand-Landschaften auf, verwinkelt bisweilen. Vertragsverhandlungen finden an kleinen Bistro-Tischchen statt, auf denen betriebsam in Laptops getippt und auf Tablets gewischt wird. Während die kleineren Verlage – es sind immerhin ausländische Unternehmen, für die sich ein Stand in Frankfurt lohnt – ganz kleine Stände haben, in denen nur ein Tisch und zwei Stühle stehen. Vier Quadratmeter Frankfurt. Der Stand von Google glänzt ganz in weiß wie die Website. Er steht frei an einer Ecke. Eiskalt und verschlossen. Alles ist eingezäunt, es gibt eine Art Empfang, an dem eine junge Dame sitzt, die keinerlei Auskünfte gibt, sondern an E-Mail-Adressen verweist. Angemeldete Besucher werden an einem Tisch plaziert, bis der Kollege für sie Zeit hat. Google wirbt hier ausschließlich für Google Play, sonst für nichts. Auch Hachette ist sehr verschwiegen und mauert sich hinter hohen Stellwänden ein wie kein zweiter Aussteller. Es erinnert mich an ein Gespräch mit meiner einstigen Französischlehrerin, die uns von den französischen Privatwäldern erzählte, die man nicht betreten dürfe. Wir müssen leider draußen bleiben.

Und im übrigen hat die Fusionitis zugeschlagen. Pearson Education hatte 2009, bei meinem ersten Besuch auf der Messe, noch einen riesigen Stand, ist diesmal aber nur noch mit seiner Rechteabteilung anwesend, kleiner als Google. Wenn man durch die Halle läuft, hört man alle fünf Minuten ein ganz anderes Englisch, Nord- und Südstaatler, Briten, Iren, Australier und Neuseeländer. Einmal um die ganze Welt, bitte, und diese Welt spricht Englisch. Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Arabisch – erst in den kleinen Hallen 5 und 6 nebenan.

Die Halle 8.0 ist zwar etwas abseits gelegen, sie ist aber genaugenommen der Kern des Betriebs in der Medienwelt, die sich hier feiert. Was dort passiert ist, hat sich auch auf die ganze übrige Szene weltweit ausgewirkt, hat hierzulande etwa den Namen Bertelsmann zu einer bloßen Marke werden lassen, die sehr unter anderem in der Unternehmensgruppe Random House unterging. Folgerichtig sollen die Stände aus Halle 8 ab dem nächsten Jahr in die übrigen Hallen integriert werden, damit zusammen präsentiert werden kann, was zusammengehört. In der Wissenschaftshalle 4.2 geht es schon heute sehr international zu, man hört dort mehr Englisch als Deutsch. Man darf gespannt sein, wie das gehen soll. Sicherlich ist in Halle 5.0 noch etwas Platz vorhanden, aber der Raum ist letztlich begrenzt, so daß es wohl auf eine Verkleinerung der Messe hinauslaufen dürfte.

Der Hype des Self-Publishing, der dieses Jahr allenthalben, vor allem aber in der „Self-Publishing Area“ in der publikumsstarken Halle 3.1 gefeiert wurde, zeigt vor allem die Betriebsblindheit der Buchbranche, die den digitalen Wandel bis heute nicht begriffen hat. Während die Autoren längst schon nicht mehr bereit sind, als fünftes Rad am Wagen von Lektoraten und Programmabteilungen gegängelt und hingehalten zu werden und die Veröffentlichung ihrer Manuskripte mit Hilfe der großen Plattformen Amazon, Apple und Google in die eigene Hand nehmen, versuchen die Platzhirsche Books on demand und Epubli, den Geist zurück in die Flasche zu bekommen und bieten Discount-Angebote an, die man durchaus einmal mit spitzer Feder durchrechnen sollte, bevor man sich vertraglich bindet. Denn das heute so genannte „Self-Publishing“ praktiziere ich genaugenommen schon, seitdem ich online bin. Also seit fast zwanzig Jahren. Ich schreibe in verschiedenen Datennetzen und habe auf diese Weise mittlerweile mit Sicherheit sehr viel mehr Leser gehabt als irgendein Kleinautor bei einem Kleinverlag, der sich an das Format „Buch“ gebunden fühlt. Das Schreiben im Netz sorgt für die unmittelbare Verbindung von Autor und Leser, es erfolgt in einem situationsgebundenen Kontext, ohne Opportunitätskosten. Die sozialen Netzwerke dienen als schwarze Bretter, und die Blogs sorgen für eine ausführlichere und auch dauerhaft öffentliche Debatte. Verlage kommen hierbei schon längst gar nicht mehr vor. Insoweit erscheint das Gerede vom „Self-Publishing“ wie das Pfeifen im dunklen Keller angesichts des Umstands, daß die großen amerikanischen E-Book-Portale die Hand am Lichtschalter haben.

Indem also das eigentliche „Self-Publishing“ schon längst in den Blogs und in den sozialen Netzwerken abläuft und auch immer mehr zunimmt, laufen die Verlage und der Buchhandel, aber auch die Bibliotheken und die Feuilletons gefahr, ins publizistische Abseits zu geraten, weil auch sie traditionell am Tropf der Publikumsverlage hängen. Die ganze Content-Verwertungskette wird überflüssig, wenn Autoren und Leser direkt zueinanderfinden. Und Bibliothekskataloge werden irrelevant, wenn sie die Quellen, nach denen Leser suchen, nicht nachweisen.

Hinzu tritt der Trend weg von den großen wissenschaftlichen Verlagen, hin zum Blog. Beispiele hierfür sind etwa die mehrsprachige Plattform hypotheses.org oder die vielen juristischen Blogs, die in den letzten Jahren entstanden sind. Gerade hier sind mittlerweile ernsthafte und gehaltvolle Formate entwickelt worden, die übrigens die laufende Berichterstattung über juristische Themen in den großen Zeitungen überflüssig machen. Aber auch „das Medium Fachzeitschrift macht nur noch begrenzt Sinn“, sagte Frank Simon-Ritz vom Deutschen Bibliotheksverband unter anderem während der Diskussion zum Right to E-Read. Wie man hört, wollen die Leser die Aufsätze nur noch online abrufen, kaum einer mag noch die gedruckte Ausgabe bekommen, auch nicht als Dreingabe zu Online, nicht mal geschenkt ist das noch gefragt. Und der Verlag C. H. Beck stellt zwei Regalmeter seiner Ausstellungsfläche für Alpmann-Skripten und kleine bunte Büchlein mit „den besten Entspannungsübungen“ für Manager bereit. Die Reihe, die sich am besten verkauft habe, sei die neue für Studenten, der Band für 9,90 Euro. Erfahre ich vor einer Wand mit drei großen Bildschirmen, auf denen die hauseigene Datenbank vorgestellt wird.

Aber die Frage, was denn überhaupt ein „Buch“ sei, ist ja ohnehin problematisch geworden. Am letzten Fachbesuchertag der Messe wurde die neue Plattform sobooks.de vorgestellt. Das Unternehmen wird im Kern von den Beratern und Bloggern Sascha Lobo und Christoph Kappes betrieben. Sobooks ist als E-Book-Shop mit integrierten Community-Funktionen angelegt. Die Leser sollen aber nicht in separaten Webforen, sondern innerhalb der Buchtexte selbst über ein Buch diskutieren, das dementsprechend auch nur online im Browser bzw. später in einer App genutzt wird. EPUB-Download soll folgen, soweit die Verlage dem zustimmen; und wenn, dann ohne DRM. Später soll es auch möglich sein, Einschübe zu dem Buchtext einzufügen, um den Text fortzuschreiben.

Man erkennt die Elemente des Web 2.0: participation, collectivism, virtual communities, amateurism. Einfach nur lesen, war gestern. Der Prosument soll mitarbeiten, und der Autor ist, wie der Blogger, der unmittelbaren Kritik aus der Leserschaft ausgesetzt. Man könnte sagen, ein E-Book-Shop ist auf der intensiven Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal, das ihn von der großen Zahl der anderen E-Book-Shops unterscheide. Denn die Bücher, die sie verkaufen, sind ja überall gleich. Man könnte aber auch sagen: Postmoderne Konzepte zur Konstruktion und zur Dekonstruktion der Texte werden damit umgesetzt. Die Grenzen zwischen der unedited voice des Autors, der in seinem Text einen langen Monolog hält, und der Rezension werden nicht gewahrt, die Grenze zwischen Autor und Leser kommt ins Fließen. Diskussionstrolle werden moderiert.

Die FAZ, die ihre traditionelle Buchmessenzeitung dieses Jahr erstmals durch ein Blog ersetzt hat, will das „social reading“ in Sobooks in ihre Website integrieren. Dieses Zeitungs-Blog, in dem Andrea Diener heute über die Historisierung ihres eigenen Blogs in einem Promotionsprojekt geschrieben hat, und Sobooks sind sozusagen die eigentliche Summe des ganzen Betriebs auf der Buchmesse 2014, und sie gewähren ein Blitzlicht auf die Medienlandschaft zwischen Web, Verlagen und Zeitungen auf der Suche nach Autoren, Lesern und tragfähigen Geschäftsmodellen. Der Umbruch, der in den vergangenen Jahren lange diskutiert worden war, findet jetzt im kommerziellen Bereich tatsächlich statt. Das nächste neue Projekt wird der Beginn des mit Crowdfunding finanzierten Journalismus-Projekts Krautreporter sein, das noch für den laufenden Monat angekündigt ist. So wird der „Schluß ex nihilo“ zum eigentlichen Merkmal von alledem: Was wurde auf der Messe nicht gezeigt, wer war dort nicht präsent und daher umso mehr im Kommen? Etwas fehlt.

Jaron Lanier

Jaron Lanier rockt sehr. Von den Bildern zu schließen, die bisher von ihm in Zeitungen und auf Websites veröffentlicht wurden, hätte ich nicht gedacht, daß er so lebendig daherkommt. Völlig locker und behende, trotz der ungeheuren Leibesfülle, lief er heute mittag durch das Foyer der Halle 5.1 auf der Frankfurter Buchmesse, bevor er von dem konservativen Wolfgang Herles auf dem „Blauen Sofa“ interviewt wurde. Und die Sonne kam heraus und schien warm durch die Scheiben links vom Podium. Das ZDF produzierte die Sendung mit vier Kameras, zwei davon statisch an der Decke aufgehängt, eine total, eine auf das Tischchen gerichtet, auf dem das Buch abgestellt wird, um das es in dem Gespräch geht. Grelles, aber kaltes Licht aus den Scheinwerfern, trotz der Sonne.

Die etwas fahrige Unterhaltung ist übrigens in der Aufzeichnung sehr viel besser zu verstehen als vor Ort. Die Umgebung ist sehr laut, man muß sich stark konzentrieren, um dem Gespräch zu folgen. Die Hintergrundgeräusche werden bei der Aufnahme wohl ausgefiltert. Erst zum Ende hin wurde es leiser, als Lanier auf einem exotischen Musikinstrument blies, das er mitgebracht hatte. Das wiederum kam vor Ort sehr viel besser rüber. Er will auch bei der Verleihung des Friedenspreises darauf spielen.

Zu Wikipedia, die er in dem Gespräch kurz erwähnt, äußerte er sich übrigens im Mai 2006 auf edge.org kritisch: Digital Maoism: The Hazards of the New Online Collectivism.

Eindrücke von der Frankfurter Buchmesse 2014

Jede Buchmesse beginnt anders. Diesmal also nicht, wie in den Vorjahren, frei flottierend zwischen Suhrkamp, Kunstmann- und Christoph-Links-Verlag und Co., sondern gezielt auf der Suche nach Events. Überhaupt Suhrkamp: Links vom Gang zeigen sie in diesem Jahr die Vergangenheit, und rechts davon ein Kessel Buntes, bis hin zum Krimi. Hinten rechts wurde wohl gependelt? Was soll das, bitte? Eingestimmt von einem Beitrag auf SWR2 zum Thema „wie wir Medien zukünftig nutzen“, hatte ich Panels und Präsentationen zu meiner Orientierung ausgewählt. Das gibt es hier im Halbstundentakt, wenn man will.

Also die Wissenschaftshalle 4.2, und dort speziell zum Thema „medienübergreifende Workflows“ mit XML. Der Diskussion war zu entnehmen, daß die diesbezügliche Technik immer noch nicht in der Breite in der Herstellung angekommen ist. So saß ich mit einer Handvoll Verlagsmitarbeitern in einem Vortrag, in dem es, wie sich schnell zeigte, genaugenommen, um Ansätze von vorgestern ging, die schon seit den 1990er Jahren in Proceedings beschrieben werden, für die Arbeit mit TeX damals etwa in dem Tagungsband zur TUG 2004 in Griechenland zusammengefaßt. Mein Hinweis auf den Workflow von OpenSourcePress von Asciidoc via LaTeX zu PDF/EPUB und auf entsprechende erprobte Workflows (N.B. ohne XML) verstand wohl vor allem der Referent zutreffend; die Verlage haben es weiterhin mit Microsoft-Word-Manuskripten ohne semantische Auszeichnung zu tun und akzeptieren das auch, jedenfalls im wissenschaftlichen Bereich mangels anderweitiger Perspektive. Die Position der Autoren ist hier sehr stark gegenüber den Verlagen.

Am „Hot Spot Professional & Scientific Information“ kam es darauf zu einer Diskussion um die „E-Medien Ausleihe in der Öffentlichen Bibliothek“, bei der, wie einer der Teilnehmer am Rande ein bißchen sportlich meinte, „wie immer bei solchen Podien nichts rauskam“. Dargestellt wurden die Positionen der Bibliotheken, der Autoren und der Verleger in Bezug auf das „Right to E-Read“ bzw., wie Frank Simon-Ritz für den Deutschen Bibliotheksverband erweiterte, das „Right to E-Lend“. Bibliotheksbenutzer sollten das Recht haben, nicht nur gedruckte, sondern auch E-Books auszuleihen. Während das E-Reading bei den öffentlichen Bibliotheken weiterhin von der kommerziell arbeitenden Onleihe beherrscht wird, die zudem jüngst testweise um einem Online-Shop erweitert worden ist (sic!), sehen die Bibliotheken ihren Auftrag darin, Informationen zu beschaffen, unabhängig von den Medien, auf denen diese vorliegen. Dafür sei selbstverständlich zu zahlen, ebenso wie für gedruckte Literatur. Gerlinde Schermer-Rauwolf vom VS – Verband der Schriftsteller bei ver.di mahnte denn auch die Bibliothekstantieme für E-Books an und hätte die Vergütung für E-Book-Leihen gerne in den Händen der VG Wort gesehen. Sie setzte auf solide und bewährte Verlags- und Vergütungsmodelle. Über Apple und Amazon zu veröffentlichen und über Blogs und soziale Netzwerke zu werben, sei ganz sicherlich möglich, aber nicht jeder, der gut schreiben und übersetzen könne, sei auch insoweit als Selbstdarsteller begabt; wem das nicht liege, sei auf ein Modell angewiesen, das ihm auch unabhängig von solchen Bemühungen zu einer angemessenen Vergütung verhelfe. Die Medien als Träger der Inhalte änderten sich im Laufe der Zeit, das Bedürfnis der Autoren an einer Vergütung bleibe dagegen gleich. Die Rolle der Verlage sah sie angesichts der Vielzahl an Manuskripten, die dort eingingen, darin, die Spreu vom Weizen zu trennen und eine Qualitätssicherung für die Leser zu betreiben. Demgegenüber sah der Verleger Matthias Ulmer die Bibliotheken mit der Onleihe in Konkurrenz zu den E-Book-Verkaufsportalen. Wer ein E-Book ausleihen könne, kaufe es später oft nicht mehr. Paradoxerweise prophezeite er der Kindle Flatrate von Amazon aber eine Bauchlandung, weil damit kein Gewinn zu erzielen sei. Frank Simon-Ritz erinnerte dagegen an die Debatte in den 1950er Jahren, als der Börsenverein ernsthaft bestritt, daß die Bibliotheken das Recht hätten, jedes Buch zu kaufen und zu verleihen. Der Fortschritt ist eben eine Schnecke. Und er will ausgehandelt werden.

Aber auch sonst kann man auf der Buchmesse an Ansichten erinnert werden, die fast schon verschwunden schienen. Denn die Messe ist ein Ort des Smalltalks. Beim etwas spät eingenommenen Mittagsimbiß an einem viel zu kleinen Café-Tischchen erzählt mir meine französische Tischnachbarin, die nach eigenem Bekunden schon mehrere Jahre in London lebe, unvermittelt von ihrer Befürchtung, durch den Mindestlohn, der gerade in Deutschland eingeführt worden sei, würde es bald mehr Arbeitslose geben (keine Ahnung, wie sie gerade auf dieses Thema gekommen war). Die Erfahrungen in Frankreich seien dementsprechend. Dafür gibt es aber doch keine Belege? Das spiele keine Rolle, solange sie von ihrer Meinung überzeugt sei. Überhaupt: Frankreich sei völlig überreguliert. Großbritannien finde sie großartig. Dort kämen derzeit ganz viele Arbeitslose aus allen möglichen europäischen Ländern zusammen und fänden ganz schnell einen formidablen Arbeitsplatz. Meinen Einwand, es könne nicht die ganze Welt nach England emigrieren, um dieserart versorgt zu werden, ließ sie nicht gelten. Das sei sogar der einzige mögliche Weg, denn in Frankreich könne man nicht mehr vernünftig leben. Die Gewerkschaften seien zu stark dort. Es sei faktisch so gut wie unmöglich geworden, einen Arbeitnehmer zu entlassen. Ja, die Einwanderung habe zum Erstarken der extremen Rechten dort geführt. Auch in Frankreich: Der Front National? Interessiere sie nicht. Aber man stellt doch niemand nicht deshalb nicht ein, weil man ihn irgendwann nicht mehr entlassen könne? Und wenn die Mobilen und Wanderfähigen abwandern, blieben am Ende die Schwachen zurück? Das zerreiße den Contrat social? Gerade wenn man eine gute Ausbildung absolviert habe, habe man die Pflicht, etwas an die Gesellschaft zurückzugeben? Nein, das sehe sie nicht so, denn es gebe keine „Gesellschaft“, es gebe nur Individuen. Ein Satz, den man zuletzt in den 1980er Jahren von Margaret Thatcher gehört hatte („And, you know, there is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families“). Da war er wieder, plötzlich in Halle 4.2. Beim Mittagessen um halb drei. Sie schulde der Gesellschaft nichts, nur ihren Eltern, die für die Schule bezahlt hätten, die sie damals besucht habe. Die es aber nur in dieser Gesellschaft habe geben können? Ja, sicher, aber das sei kein Grund zur Dankbarkeit, denn alles sei ihre Leistung. Übrigens, zum NHS gehe sie nicht. Man könne in Großbritannien nur privat zum Arzt gehen, das öffentliche Gesundheitswesen kümmere sich nicht um die Menschen, sie habe es ausprobiert. Sie bestand übrigens darauf, das Gespräch auf Englisch zu führen, was nicht nötig gewesen wäre, denn ich kann Klassenkampf durchaus auch auf Französisch, aber sie wollte das ausdrücklich nicht und blieb lieber bei ihrem britischen Englisch mit einem etwas herben Unterton. Was aus der einstmals stolzen Frankophonie geworden sei? Ach, sie wisse es auch nicht. Aber Frankreich sei ja sowieso am Abbauen. Ja, dann. Wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck. Sie hatte eine ganz zierliche, dünne, kleine Hand, und sie nickte, als ich zu ihr sagte: „Agree to disagree?“ Sie wirkte etwas schwächlich vom Habitus, als sie davonging und ich ihr nachsah. Es dauerte noch ein paar Minuten, dann verlor sie sich endgültig in der Masse der Halle.

Weitere persönliche Eindrücke von der Buchmesse findet man bei UmamiBücher und natürlich auch wieder bei Café Digital.

Ello, goodbye

Während die Frage „Ist jemand in Ello?“ heute in einer meiner Mailinglisten für Late Adopters auftauchte, winken andere schon wieder müde ab. Anne Roth fühlt sich von dem neuen „Social-Media-Dings“ nicht vom Hocker gerissen angesichts der AGB, in denen man sich die Weitergabe von personenbezogenen Daten für die Zukunft offenhalten will. So ist der Spruch „Ello, goodbye“ schon zum geflügelten Wort geworden. Eine Übersicht über die Diskussion findet sich bei Anastasia Salter im Blog des Chronicle of Higher Education.

Der Hype zeigt ein bekanntes Muster: Ähnlich wie bei den Suchmaschinen, gibt es auch in Bezug auf soziale Netzwerke ganz offenbar eine gewisse Anzahl von Benutzern, die sich nach einer „besseren“ Version des Platzhirschs sehnt, nach einer Art Google, das zwar so ist wie Google, aber nicht ganz so datenkrakig und böse. Bezogen auf Facebook war zunächst Google+ ein Kandidat für diese Rolle unter den sozialen Netzwerken, dann kamen Diaspora und Friendica auf, zuletzt Ello.

Dabei ist klar, daß dieser Wunsch frustriert werden muß, denn eine zentrale kommerzielle Plattform, deren Geschäftsmodell im Sammeln und Verwerten von persönlichen Daten besteht, die die Benutzer freiwillig dort eingeben, aus welchen Gründen auch immer, kann gar nicht viel anders sein als man es von eben diesen großen Vorbildern her kennt. Und die dezentrale Alternative wollte ja kaum einer benutzen (das Interview mit dem Vertreter der Free Software Foundation, in dem das vor gut einem Jahr erklärt wurde, ist mittlerweile vom Deutschlandfunk depubliziert worden). Das biedermeierliche Facebook-und-Google-Internet ist einfach zu kuschelig warm, um es zu verlassen und sich auf den kühlen und gefährlichen Weg in die Freiheit zu wagen. Diesen geistigen Spagat muß man erstmal leisten – für die meisten Zeitgenossen offenbar gar kein Problem. Chapeau.

Derweil ist in den freien Netzen eine gewisse Konsolidierung zu beobachten. Die Mailinglisten – deren Archive weiterhin ein wichtiger Teil des Deep Web ist – werden weiterhin gut genutzt, und auch im Usenet gibt es in den von mir gelesenen Gruppen einen merklichen Rückgang der Trolls und eine Rückkehr zu einer sachlichen Diskussionskultur. Das Netz lebt.

Der Wikipedia-Artikel zu Ello ist übrigens heute gelöscht worden: „Derzeit noch keine Relevanz ersichtlich.“