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„Making Heimat – Germany, Arrival Country“ im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main

Über die Ausstellung Making Heimat, die derzeit im Deutschen Architekturmuseum gezeigt wird, ist schon viel geschrieben worden, und ich habe irgendwann einmal alles gelesen, was ich darüber finden konnte: Deutscher Pavillon bei der Architektur-Biennale 2016. Die Flüchtlingskrise 2015 und ihre Auswirkungen auf die Architetur und den Städtebau als Thema. Wenn man dann aber vor Ort ist, wirkt das alles doch ziemlich fern und man muß sich erst einmal durch die vielen, vielen Wandtexte hindurch lesen, lesen, lesen.

Die Website stellt die Ausstellung schon ganz gut vor: Im Erdgeschoß wird das Konzept der Arrival City von Doug Saunders erklärt, und im ersten Stock gibt es einen Überblick über die Gebäude und Wohnformen, die seit 2015 in Deutschland entstanden sind, um die Neuangekommenen unterzubringen: Teils sind es Provisorien, teils aber auch Gebäude, die noch länger stehenbleiben werden.

Saunders hat eine Handvoll Voraussetzungen formuliert, damit eine Integration vor Ort gelingen kann. Damit aus der Ankunft ein Nestbau werden kann: Die Arrival City ist eine Stadt in der Stadt. Die Arrival City ist bezahlbar. Die Arrival City ist gut erreichbar und bietet Arbeit. Die Arrival City ist informell. Die Arrival City ist selbst gebaut. Die Arrival City ist im Erdgeschoss. Die Arrival City ist ein Netzwerk von Einwanderern. Die Arrival City braucht die besten Schulen. – Das soll in Offenbach gelingen – meinen die Frankfurter aus dem Deutschen Architekturmuseum (DAM). Jedenfalls nicht an vielen Orten in Deutschland, denn es gibt offenbar nur wenige solcher Hotspots, wo ganz viele an- und zusammenkommen, um von dort aus dann weiter zu ziehen. Die hohe Fluktuation ist ein weiteres Merkmal der Arrival Cities. Man kommt nicht um zu bleiben, sondern um sich erst einmal ganz grundlegend zurechtzufinden.

Der Spiegel brachte vor drei Wochen eine Bestandsaufnahme zum Stand der Integrationsbemühungen. Wo liegen die Probleme derzeit?

  • Der Wohnungsmarkt ist durch die vielen Nachfrager nunmehr völlig überfordert – eine langfristige Folge des neoliberalen Rückzugs aus dem sozialen Wohnungsbau. Letzteres war absehbar, aber die Zuwanderung hat alles ins Groteske verschärft. Auf einem U- und S-Bahn-Plan in der Ausstellung sind Haltestellen mit den Mietpreisen für eine 70-qm-Wohnung beschriftet. Man sieht unmittelbar, wo die Arrival-Räume zu finden sind und wo auf keinen Fall. Nach Frankfurt zieht man erst, wenn man es sich leisten kann.

  • Der Deutschunterricht setzt voraus, daß man überhaupt einmal lesen und schreiben gelernt hatte. 70 Prozent der Afghanen, die zu uns gekommen sind, sind aber Analphabeten und müssen daher erst einmal alphabetisiert werden, bevor sie weiter beschult werden können. Wegen der schlechten Anerkennungsquote werden viele aber gar nicht oder erst sehr spät in Sprachkurse kommen.

  • Die Unternehmen wenden ihre exaltierten Vorstellungen über das Personal, das schon zum Ausschluß vieler Einheimischer geführt hatte, auch auf die Neuangekommenen an und stellen fest, dass natürlich auch sie ihren Maßstäben oft nicht genügen: Mehr als die Hälfte der Syrer über 18 Jahren haben keinen Schulabschluss. Aber auch Akademiker finden kaum etwas, weil die Ausschreibungen zu speziell formuliert sind. Der Spiegel verweist auf einen 35-Jährigen aus begüterten Verhältnissen, der trotz eines MBA, den er an der EBS in Oestrich-Winkel gemacht hat, überall abgelehnt werde. Früher war so ein Abschluß mal eine Freifahrkarte in die Wirtschaft, völlig unabhängig von der Herkunft. Das verweist auf Probleme am Arbeitsmarkt, die mit der Nationalität und den näheren Umständen der Flucht oder des Bildungswesens im Heimatland gar nichts zu tun haben.

  • Und die Schulen müssen ihre Vorbereitungsklassen mit pädagogischen Laien bestreiten, weil es schon lange viel zu wenige ausgebildete Lehrer gibt. Viele zugewanderte Kinder würden aber gar nicht unterrichtet, die meisten kämen erst nach langer Wartezeit in die Schule. Die Behörden stehen sich gegenseitig im Wege.

Davon erfährt man in der Ausstellung leider nichts. Dafür viele Details über die Containerbauwerke, vor allem die Kosten. Die Schau beschreibt, sie dokumentiert, was ist. Sie bleibt insoweit unkritisch. Dabei wären schon die vielen Holzbauten ein Anlaß zum näheren Hinschauen gewesen. Wir bauen gemeinhin in Stein, und auch der Container war – zumindest in unserer Stadt – bisher eher eine Unterkunft für Obdachlose, platziert am Stadtrand, in prekärer Lage, weit draußen, wo man sonst gar nicht hinkommt. Hier aber – und das ist das eigentlich Erstaunliche – mit einer Empathie und Wärme eingesetzt und gestaltet, von der man sich wirklich und dringend wünschen möchte, daß sie über den Tag hinaus bestehen bliebe, und bitte für alle. Dann wäre etwas erreicht.

Literatur: Saunders, Doug. 2016. Making Heimat: Germany, arrival country: La Biennale di Venezia, 15. Mostra Internazionale di Architettura, partecipazioni nazionali. Hg. von Peter Cachola Schmal, Oliver Elser, und Anna Scheuermann. 1. Auflage. Ostfildern, Germany: Hatje Cantz. – Baus, Ursula, Wilfried Dechau, Oliver Elser, Stefan Haslinger, Karen Jung, Laura Kienbaum, Doris Kleilein und Gerhard Matzig. 2017. Making Heimat. Germany, arrival country: atlas of refugee housing. Hg. von Peter Cachola Schmal, Oliver Elser, und Anna Scheuermann. Berlin: Hatje Cantz. – Saunders, Doug. 2011. Arrival city: über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom Land in die Städte – von ihnen hängt unsere Zukunft ab. Übers. von Werner Roller. 1. Aufl. München: Blessing. – Saunders, Doug. 2013. Die neue Völkerwanderung – arrival city. Übers. von Werner Roller. 1. Aufl. München: Pantheon. – Djahangard, Susan, Katrin Elger, Christina Elmer, Miriam Olbrisch, Jonas Schaible, Mirjam Schlossarek und Nico Schmidt. 2017. Richtig ankommen. DER SPIEGEL, Nr. 19 (6. Mai): 34. (zugegriffen: 26. Mai 2017).

Making Heimat – Germany, Arrival Country. Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main. Kuratoren: Peter Cachola Schmal, Anna Scheuermann, Oliver Elser. – Pressemitteilung. – Bis 10. September 2017.

Werbung

„Berührt – Verführt. Werbekampagnen, die Geschichte machten“ im Museum für Kommunikation, Frankfurt am Main

Der Titel der Ausstellung über „die populärsten und erfolgreichsten Werbekampagnen von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart“ in Deutschland erinnert an eine Regel des Schachspiels: Berührt – geführt – wer eine eigene Figur absichtlich berührt, muß mit ihr auch ziehen. Wird der Rezipient, der von einer Werbung berührt wird, also mit einer gewissen Notwendigkeit verführt? Skepsis ist angezeigt.

Zu sehen sind sowohl historisch bedeutsame Beiträge als auch bekannte Motive, an die man sich gerne wieder erinnern wird. Kurios etwa die erste Kampagne im Nachkriegsdeutschland „Lumpen her! Wir schaffen Kleider“, mit der für die Weiterverarbeitung alter „Lumpen“ zu neuen Kleidungsstücken geworben wurde. Dies inmitten von lauter Ware „in Friedensqualität“ – nicht nur die alten Nazis, auch die bekannten Waschmittel waren in dieser Zeit bald „wieder da“, und sie strahlten blütenweiß, natürlich. Neu war uns die Kampagne des Vereins Die WAAGE e.V., wenn man so will: einem frühen Vorläufer der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ in den 1950er und 1960er Jahren. Sie führte Kampagnen durch, um die Wähler daran zu erinnern, daß die „Soziale Marktwirtschaft“ auf Ludwig Erhard und nicht etwa auf die SPD zurückgehe. Dann wird die Ausstellung kommerzieller und konzentriert sich auf die „großen Kampagnen“ – die Drei-Wetter-Taft-Frau, deren „Frisur sitzt“, oder den Camel-Mann oder die Schock-Werbung von Benetton. Punktuell wird ihnen aber auch die politische Plakatkunst von Klaus Staeck oder die Pardon-Persiflage der Jägermeister-Serie zur Seite gestellt. Zahlreiche historische Exponate stammen aus der breit angelegten Sammlung von Richard Grübling.

Das Museum für Kommunikation feiert sie noch einmal: Die Werbung in drei Erscheinungsformen der Massenmedien, dem Werbespot, der ganzseitigen Anzeige in der Zeitung und dem Plakat, die ja gerade im Verschwinden sind. In den Zeiten der Filter Bubble und der zielgenauen Plazierung von Werbung in sozialen Netzwerken und Suchmaschinen gibt es die große Kampagne für die Massen schon lange nicht mehr. Das Verschwinden des linearen Fernsehprogramms tut ein übriges. Die Ausnahme bestätigt die Regel, z. B. beim amerikanischen Super Bowl, wo traditionell die Werbezeit besonders hoch dotiert ist und große Spots wie Apples 1984 noch lange in Erinnerung bleiben. Die Werbung, von der die großen Internet-Konzerne leben, ist mittlerweile dem Tode geweiht durch die AdBlocker, Reader-Stylesheets im Webbrowser und sonstige technische Gegen-Aufrüstung der Benutzer. Werbespots verbreiten sich heutzutage „viral“ über die sozialen Netzwerke. Das jüngste Beispiel dafür war gerade der Spot Heimkommen von Edeka, der zu Weihnachten 2015 vor allem über YouTube und Soundcloud bekannt wurde. Aus den Netzwerken entsteht eine kritische Masse, die noch in der Lage ist, eine Wahrnehmung zu erzeugen. Die legendäre Pose von Frau Sommer mit der „Krönung“ am sonntäglichen Kaffeetisch stammte tatsächlich aus einer anderen Welt.

So kann man die Ausstellung des MFK vor allem lesen als einen Abgesang sowie als Nachruf nicht nur auf die Werbung der alten Bundesrepublik (und übrigens am Rande auch der DDR), sondern generell auf die Werbung alten Stils, wie wir sie von früher her kannten und wie sie nie mehr sein wird – auch und gerade wenn in den Spots an der Hintergrund-Säule gegen Ende der Schau „Kreative“ aus den Agenturen genau das Gegenteil behaupten. Sie sollten es eigentlich besser wissen:

Berührt – Verführt. Werbekampagnen, die Geschichte machten. Museum für Kommunikation, Frankfurt am Main. Kuratorenteam: Katja Weber, Richard Grübling, Helmut Gogarten, Nassrin Sadeghi. Noch bis 28. August 2016.

Trevor Paglen, „The Octopus“, im Frankfurter Kunstverein

Auf dem Chaos Communications Congress hat Trevor Paglen im Jahr 2013 einen Vortrag gehalten, in dem er seine Arbeit vorstellte; die Aufzeichnung der Präsentation wird in der Ausstellung „The Octopus“ im Frankfurter Kunstverein neben einer Auswahl seiner Arbeiten gezeigt.

Worum geht es?

Die Vereinigten Staaten – aber nicht nur sie – entführen laufend Menschen aus politischen Gründen, verschleppen sie in geheime Gefängnisse außerhalb ihres eigenen Staatsgebiets, foltern und verhören sie dort, zerstören damit Leben und stellen sich außerhalb des Rechts und der Menschlichkeit. In Deutschland bekanntgeworden ist insoweit vor allem der Fall El Masri. Aber auch das Lager in Guantanamo gibt es immer noch. Die Berichterstattung hierüber ist so umfangreich gewesen, daß man das heute nicht mehr als „Verschwörungstheorien“ abtun kann. Es handelt sich durchweg um eklatante Menschenrechtsverletzungen, die zu ächten sind.

Solche Aktionen hinterlassen Spuren. Dienstleistungen werden von privaten Firmen für den Staat erbracht, dafür gibt es Aufträge, hinterher werden Rechnungen gestellt, die einen Absender haben und einen Adressaten. Diese Briefe werden mit falschem Namenszug gezeichnet und befördert.

Kurz zusammengefaßt, greift Paglen solche Dokumente und sonstige Zeugnisse von Militär und Nachrichtendiensten auf, die von Whistleblowern beispielsweise über die Plattformen Cryptome oder Wikileaks veröffentlicht worden sind, und geht den darin enthaltenen Hinweisen auf solche geheimen Aktivitäten der Dienste nach. Einige der Dokumente, die Ausgangspunkt von Recherchen waren, werden in der Ausstellung gezeigt. Findet Paglen etwa den Sitz eines solchen „Contractors“, der Verschleppte im Flugzeug transportiert hat, photographiert er das Haus ebenso wie die Mitarbeiter und die Autos vor dem Firmengelände.

Das alles macht das Verborgene sichtbar, bringt es ans Licht, zeigt die Spuren, die auf das Geheime hinweisen, das längst den Alltag durchdringt. Dabei entstehen eindringliche Bilder, wie etwa die durch Langzeitbelichtung bei Mondlicht entstandene Photographie „They watch the moon“, die eine Abhörstation in den Wäldern von West Virginia zeigt, die dort weitab von allen Störsignalen Wellen empfängt, die vom Mond auf die Erde zurückgeworfen werden. Um das technisch möglich zu machen, wurde dort eine „National Radio Quiet Zone“ von 34.000 Quadratkilometern eingerichtet, die für die nötige elektromagnetische Stille sorgt. Die Antennen stehen ruhig inmitten der sanften grünen Hügel und lauschen ins All hinaus. Auf anderen Bildern sind Vorbereitungen für den Start von Drohnen zu sehen, die auf weit entfernten Militärbasen stationiert sind, welche man kaum noch optisch sehen und abbilden kann. Aufklärungs-Satelliten macht Paglen sichtbar, indem er ihre Bahnen am Sternenhimmel mit extrem langer Blende aufzeichnet. Drei eindringliche Nachtaufnahmen von Zentralen der amerikanischen Geheimdienste hat er unter CC0-Lizenz auf Wikimedia Commons freigegeben.

In der Mitte des ersten Raums steht ein Hotspot, der den Weg ins Tor-Netzwerk für jedermann eröffnet.

Julia Voss hat in der FAZ darauf hingewiesen, daß Trevor Paglen seine Aktionen über den Kunstmarkt finanziere: Künstler wie Paglen oder auch der Neuseeländer Simon Denny zapfen die fast unendlich scheinenden Ressourcen des Kunstbetriebs an, um Öffentlichkeit herzustellen. Originale oder Editionen werden zur Währung der investigativen Recherche.

Der Ausstellung, die im Rahmen der Photo-Triennale RAY 2015 im Frankfurter Kunstverein gezeigt wird, wünscht man viele Besucher, gerade auch aus dem Kreis der technikaffinen Gemeinde, die sonst kaum den Weg in die Kunst- und Kulturtempel findet.

Trevor Paglen, „The Octopus“, im Frankfurter Kunstverein noch bis 30. August 2015. – Siehe auch das umfangreiche Pressematerial.

„Orkan Niklas“ im Museum Angewandt Kunst, Frankfurt am Main

Der Orkan Niklas, der europaweit für Behinderungen gesorgt hat und weiter anhält, ist auch am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt nicht vorübergegangen. Das Museum hat auf die extreme Wetterlage reagiert und den Zugang zu seiner Sammlung sowie zu den Sonderausstellungen für Besucher, die einen sturmtauglichen Regenschirm mit sich führen, geschlossen. Die Schließfächer im Untergeschoß seien viel zu klein für so große Regenschirme, und auch eine bewachte Garderobe könne man leider nicht mehr anbieten. Auf diese sei bei den vor kurzem durchgeführten Umbauarbeiten verzichtet worden, erklärte eine Mitarbeiterin des Hauses. So zogen wir gestern unverrichteter Dinge von dannen. Wir kehren zurück, wenn die Sonne wieder scheint.

„Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“ im Museum für Kommunikation Frankfurt am Main

Ende der 1990er Jahre veröffentlichte Daniel Goldhagen sein Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, in dem er unter anderem die These aufstellte, der gesamtgesellschaftliche Antisemitismus in Deutschland sei eine zentrale Triebkraft des Holocaust gewesen. Der Antisemitismus hatte (und hat) sozusagen eine volkstümliche Seite. Und es gibt Zeugnisse dafür, die man auch heute noch auffindet und nachweisen kann. Nicht nur auf der Straße oder an manchen Stammtischen begegnet man solchen Ansichten, sie sind vielerorts schon längst wieder salonfähig geworden. Wenn etwa Bernd Lucke von der AfD Michel Friedmann in einer Talkshow mal so eben über den Mund fährt, weil das seinen Wählern imponiert, und der Moderator dazu kommentiert, er, Friedmann, solle sich nicht so anstellen.

Hier geht es nun um den alltäglichen Antisemitismus, der sich ausbreitet in der Öffentlichkeit. Überwiegend ohne prominentes Gesicht. Mit kleinen Aufklebern, die in Bahnzügen und auf der Straße angebracht werden, an Ladengeschäften, und zwar in ziemlich großer Zahl. Und das auch nicht erst in den 1920er und 1930er Jahren, sondern schon im Kaiserreich, so daß es auch schon früh zur Gegenwehr kam. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens mobilisierte seit 1893 gegen die antisemitische Propaganda, unterstützt übrigens von Bürgern aller Konfessionen.

Die Ausstellung „Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“, die seit dieser Woche im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main gezeigt wird, versucht zu rekonstruieren, wie das wohl gewesen sein mag. Aufkleber breiteten sich – ähnlich wie die etwas älteren Flugschriften – seit der Jahrhundertwende massenhaft aus. Sie waren als Sammelbilder, wie man sie heute noch kennt, in erster Linie ein Werbemedium für kommerzielle Zwecke, das in Alben eingeklebt wurde. Aber es gab eben auch andere Motive. Aus dem Jahr 1893 datiert eine runde blaue Klebemarke, auf der steht: „Kauft nicht bei Juden!“ Seit Anfang der 1920er Jahren nimmt das zu, breitet sich diffus aus, weil man die Täter nicht kennt. Ich stelle mir das unheimlich vor. Es dürfte bei den Betroffenen zu einer erheblichen Verunsicherung durch dieses Mobbing gekommen sein. Gegenaufrufe entstehen. Man fordert dazu auf, sich nicht zurückzuziehen, sondern sich einzumischen, zum Beispiel in die Vereine zu gehen und für die eigenen Rechte einzutreten. Es kommt auch zur Solidarisierung, etwa in einem Kegelverein in Breslau, wo gegen das Aufkleben solcher Marken von den Mitgliedern vorgegangen wurde. Das war aber eine Ausnahme. Als sich die Marken auch auf Briefen ausbreiteten ergeht ein Erlaß des Reichspostministeriums, um das zu untersagen. Nachdenklich macht die Vitrine am Eingang der Schau, in der eine Sammlung von Liebesbriefen aus der Zeit zwischen 1920 und 1923 zu sehen ist, jeder Umschlag trägt eine Marke mit einem antisemitischen Zitat. Da hatten sich zwei gefunden.

Ein besonders eklatantes Beispiel war das Hotel Kölner Hof, das, direkt am Frankfurter Hauptbahnhof gelegen, schon vor der Jahrhundertwende mit imitierten Bahnfahrkarten mit dem Aufdruck „Freikarte nach Jerusalem“ aufgefallen war, „gültig ab jeder Deutschen Station, nicht übertragbar, hin und nicht wieder zurück“. Der Betreiber des Hotels Hermann Laass, ein Frankfurter Stadtverordneter, bezeichnete sein Haus, das 1889 gegründet worden war, seit 1893 als ein „judenfreies Hotel“ – auch davon zeugen kleine Briefsiegelmarken. Er veranstaltete antisemitische Tagungen und stattete sein ganzes Haus mit entsprechenden Parolen aus, „jüdischer Besuch verbeten“, bis in die Tischdekoration und das Geschirr hinein. Als er damit begann, auch den Außenbereich dementsprechend zu dekorieren, wurde ihm von der Stadt Frankfurt die Außenbestuhlung verboten. Er machte trotzdem weiter.

Die Ausstellungsstücke stammen aus der Sammlung des Berliners Wolfgang Haney, der das Dritte Reich als Kind erlebte. Seine Mutter war Jüdin. Als er in den 1990er Jahren auf Postkarten mit judenfeindlichen Motiven aufmerksam wurde, beginnt er, sie zu sammeln. Es gibt einen Markt für solche Dinge, es gibt Händler und Auktionen, und die Preise seien entsprechend hoch. Auch die Klebemarken, die hier gezeigt werden, stammen aus diesem Umfeld. In zwei Interviews hat Haney über sein Leben und über seine Sammlung erzählt, zum einen gegenüber der Bundeszentrale für politische Bildung, aber auch vor etwa einem Jahr im RBB-Inforadio. Auch bei Spiegel Online Einestages findet sich ein Beitrag zum Thema mit Abbildungen zeitgenössischer Klebemarken.

Die Ausstellung endet mit einem Blick auf die Gegenwart. Den Antisemitismus und den Rassismus gibt es weiterhin, auch die Motive wiederholen sich. Im Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 verteilte die NPD ein „Rückflugticket“ mit der Aufschrift: „Ab Deutschland, Ziel Heimat, One way“. Und in einem Video wird eine pensionierte Berliner Lehrerin interviewt, die mit dem Herdkratzer durch die Straßen geht, um die heutige Neonazi-Propaganda von den Laternenmasten zu entfernen. „Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“ schärft den Blick dafür.

Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“. Museum für Kommunikation Frankfurt am Main, bis 21. September 2014. Kuratoren: Isabel Enzenbach und Marcus Funck, jeweils Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin. Das begleitende Material findet man auf der Website des Museums, lesenswert sind insbesondere die Ausstellungstexte. Auf Flickr findet man ein Album mit den Pressephotos.