Archiv der Kategorie: Bibliothek

„Die Frankfurter Rundschau … verfügt heute nicht einmal mehr über ein Archiv“

Im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung Was jetzt möglich ist gibt Navid Kermani nebenbei einen tiefen Einblick in die Entwicklung des Journalismus. Zeitungen, so meint man, stützen sich auf ein großes Archiv aus alten Ausgaben, zumindest ihrer eigenen Veröffentlichungen, wenn nicht noch mehr. Man denkt an das Spiegel-Archiv, das legendär war für seinen Umfang. Und die Computerzeitschrift c’t hatte ihre alten Ausgaben vor zehn Jahren, zu ihrem 30. Geburtstag, sogar zu einer imposanten Skulptur verarbeiten lassen, die sie nun zum Vierzigsten aufstocken lassen möchte, wenn es die Gebäudestatik erlaubt. Der Turm aus alten Heften steht stolz im Treppenhaus des Verlagshauses in Hannover. Das ist aber nicht überall so:

Den ältesten Text, den ich für das vorliegende Buch vorgesehen hatte, den Artikel über Nasr Hamid Abu Zaid in der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1993, konnte ich zu Hause nirgends finden, nicht einmal als Datei in meinem Computer. In der Annahme, dort sei der Artikel elektronisch erfaßt, wandte sich mein Lektor an die Frankfurter Rundschau – vergebens. Gut, dann gibt es doch sicher einen Keller, in dem ältere Jahrgänge der Zeitung lagern, glaubte der Lektor, und gegen ein entsprechendes Entgelt werde die entsprechende Ausgabe hervorgeholt. Nein, gibt es nicht, teilte die Redaktion mit: Die Frankfurter Rundschau, die bis vor wenigen Jahren zu den vier, fünf überregionalen Zeitungen im deutschsprachigen Raum gehörte, mit einem herausragenden Feuilleton und einer Auslandsberichterstattung, deren schierer Umfang heute kaum glaublich erscheint – sie verfügt heute nicht einmal mehr über ein Archiv. Schließlich begab sich eine Mitarbeiterin des Verlags in die Münchner Staatsbibliothek und fand in einem der Regale tatsächlich die große, staubbedeckte Kladde mit dem Jahrgang 1993.

Der Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek (am Münchener Standort des C.H.Beck Verlags) ersetzt das Archiv des Zeitungsverlags in Frankfurt am Main. Die dortige Zeitung lebt ganz im Hier und Jetzt, in der Gegenwart, gleichsam geschichtslos hat sie sich ihrer Vergangenheit entledigt. So liest sich die Zeitung bisweilen ja auch tatsächlich, könnte man sagen. Am Ende bleiben die Bibliotheken als Wahrer des kulturellen Erbes übrig. Der Staub auf dem gebundenen Jahrgang wirkt hier wie eine schützende Schicht, die das Gestern begleitet und wärmt, bis die Bibliotheksbenutzerin kommt und den alten Text wiederentdeckt, so dass die Erinnerung an die alte Zeit (damals studierte ich noch!) wieder lebendig wird. Übrigens unentgeltlich.

Kermani, Navid. Was jetzt möglich ist: 33 politische Situationen. München: C.H. Beck, 2022, S. 9. – Rink, Jürgen. Fit und vierzig. c’t geht ins fünfte Jahrzehnt. In: c’t 3/2023, S. 124.

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Nationallizenz für Publishers Weekly

Für Benutzer mit einem Wohnsitz in Deutschland gibt es jetzt einen Zugang zum digitalen Archiv von Publishers Weekly als Nationallizenz. Der verlinkte Eintrag datiert zwar vom Sommer, das Angbot ist aber erst jetzt in die Liste der für Privatpersonen verfügbaren Zugänge aufgenommen worden. Das, wenn man so will, amerikanische Pendant zum Börsenblatt ist eine Fundgrube für alle, die sich für Literatur, Verlagswesen und Buchhandel interessieren. Das Archiv geht zurück bis 1872. Es gibt eine Moving Wall von einem Jahr. Alle Ausgaben sind im Volltext durchsuchbar. Der Zugriff auf das Angebot von East View Information Services wird bereitgestellt von den FIDs für Buch-, Bibliotheks- und Informationswissenschaft sowie für Anglo-American Culture.

Russians

Ein Rückblick in die 1980er Jahre. Das Lied Russians wurde 1985 veröffentlicht. Sting war damals 34 Jahre alt, also fast halb so alt wie er heute ist.

Und wir arbeiten uns immer noch daran ab: Tod, Angst, Abschreckung und Krieg sind zurück in Europa. Es scheint eine Endlosschleife zu sein. Wenn ich an den kalten Krieg denke, wenn ich an Krieg denke, dann denke ich an dieses Lied.

Ich habe auch keine Lösung. Aber auch die reflexhafte Aufrüstung ist falsch. Ich denke auch immer wieder an Sätze von Wolfgang Borchert aus der Nachkriegszeit. Sein Vermächtnis. Sie sind wahr:

Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN! …

Stellvertretend für die Bibliotheken in der Ukraine sei auf die Wernadskyj-Nationalbibliothek in der Hauptstadt Kiew verwiesen. 1918 gegründet, umfasst ihr Bestand 15 Millionen Medieneinheiten, eine der größten Bibliotheken der Welt. Die Benutzung war bis zum russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 geöffnet. Möge sie und mögen andere Kulturstätten und die Menschen dort beschützt sein.

Relaunch von sozialgerichtsbarkeit.de

Harald Thomé weist in seinem letzten Newsletter auf den Relaunch der Website sozialgerichtsbarkeit.de hin. Hinter dem Suchformular verbirgt sich ein veritabler Klassiker unter den freien Rechtsportalen, nämlich die Volltexte vieler sozialgerichtlicher Entscheidungen, auch von Instanzgerichten, zurückgehend bis zum Beginn des Internetzeitalters und darüber hinaus, teilweise bis in die 1980er Jahre. Beschlüsse und Urteile von Sozialgerichten aller Bundesländer und aller Instanzen unter einer Oberfläche recherchierbar – im Gegensatz zu den nach Ländern zersplitterten Rechtsprechungsdatenbanken. Ein Zugang zur gesamten sozialrechtlichen Rechtsprechung, ein wichtiges Stück Rechtsgeschichte.

Leider ist die neue Version nur noch nach Stichworten durchsuchbar, früher ging da mehr, es gab eine erweiterte Suche und leistungsfähige Filter, die Sortierreihenfolge entzieht sich meiner Einschätzung und es ist definitiv Luft nach oben, es gab auch mal einen Download der Volltexte als PDF und XML, aber alles ist frei abrufbar, immerhin. Es ging wohl darum, die Inhalte nach dem Untergang der alten Website überhaupt zu retten und sie wieder online zu stellen. Geblieben ist immerhin ein Formular für die neuen Entscheidungen, in dem man auch nach Aktenzeichen und nach Rechtsgebieten suchen kann. Vielleicht tut sich da ja noch was, es wäre schön! Mag auch sein, dass mich meine Erinnerung trügt und mir die Vergangenheit allzu goldrandig erscheint…

Eine Initiative der Sozialgerichte, die viel zu wenig bekannt ist. Und die den Blick darauf lenkt, dass die Rechtsinformatik einst mit dem Arbeits- und Sozialrecht begann. Auch Juris wurde zunächst mit Inhalten aus diesen Rechtsgebieten aufgebaut. Bevor alles kommerzialisiert und verpaywallt wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.

Für den Erhalt der Psychoanalyse an der Goethe-Universität

Der traditionsreiche Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Frankfurter Goethe-Universität soll zum Sommersemester 2022 neu besetzt werden. Derzeitiger Inhaber ist Tilmann Habermas. Er war einst Nachfolger von Christa Rohde-Dachser, bei der ich während meines Studiums Psychoanalyse gehört hatte, und er wird bald emeritiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete ausführlich darüber – und versteckt den Beitrag nun hinter einer Paywall; nachzulesen ist er in der gedruckten Ausgabe vom 25. August 2021, S. N4.

Es ist geschehen: Der Lehrstuhl soll vom Fachbereich „verfahrensoffen“ ausgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Der Fortbestand der Psychoanalyse an der Frankfurter Universität ist gefährdet.

Nun ist Frankfurt eine Stadt der Psychoanalyse. Das Fach ist hier mit den Mitscherlichs und mit dem Sigmund-Freud-Institut verbunden, überhaupt mit der Frankfurter Schule. Nach dem Scheitern des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“, der auch von Schülern der Frankfurter Schule getragen wurde, gerät ein weiterer, der wenigen Pfeiler, die Frankfurt noch von anderen Hochschulen unterschieden und ausgezeichnet haben, ins Wanken. 2017 war es eine Entscheidung der DFG (auch die ZEIT heute nur noch hinter der Paywall zu lesen). Vielleicht wird die Frankfurter Schule bald von den Frankfurtern selbst noch abgewickelt?

Wohlgemerkt, es geht hier nicht nur um die Ausbildung zukünftiger Psychoanalytiker, sondern um ein Fach, das von zentraler Bedeutung für alle Sozial- und Geisteswissenschaften ist. Als ich Veranstaltungen zur Psychoanalyse besuchte, kamen dorthin Hörer aus allen Fachbereichen. Der Andrang war groß, trotzdem musste sich der Fachbereich immer wieder darum sorgen, den kleinen Hörsaal II behalten zu dürfen. Deshalb wurden damals Anwesenheitslisten ausgegeben, auf denen man auch sein Studienfach eintragen sollte, um das große Interesse zu dokumentieren.

Auch heute ist der Protest gegen die Abschaffung der Psychoanalyse an der Goethe-Universität groß. Sie findet natürlich im virtuellen Raum bei OpenPetition statt. (Eine Preisfrage für Bibliothekare am Rande wäre etwa: Ist der virtuelle Raum ein Ort im bibliothekarischen Sinne, beispielsweise als Tagungsort bei Online-Tagungen? Aber das wäre ein ganz anderes Thema. – SCNR.)

Bisher haben über 8900 Unterstützer die Online-Petition gezeichnet. Ich habe dazu auch einen Kommentar hinterlassen, den ich hier noch einmal dokumentiere:

Die Psychoanalyse ist eines der Fächer, die mein Studium als Jurist geprägt hatten. Ihr Ziel ist die Aufklärung des Einzelnen und der Gesellschaft über sich selbst. Eine moderne und immer mehr individualisierte und diverse Gesellschaft braucht dieses Fach, um vernünftig und sinnvoll handeln und gestalten zu können. Es ist, wenn man so will, ein Kernfach der Frankfurter Schule, das Brücken schlägt, das uns über den Menschen und die Gesellschaft informiert und ohne das ich mir meine Frankfurter Universität gar nicht vorstellen kann. Ich hoffe sehr, dass der Fachbereich den Lehrstuhl in seiner bisherigen Ausrichtung erhält!

Der Ort, an dem wir noch nicht waren

„Die Formel, die ich wählen würde, wäre: Wir müssen rückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren. Und das scheint mir genau das Problem zu sein. Es gibt Rückkehr, und wir wollen Rückkehr in ein normales Leben. Aber wenn man ganz ehrlich ist, wissen wir, dass die Normalität, die wir dann haben werden, eine andere Normalität ist, die auch andere Vulnerabilitäten mit sich bringt, andere Aufmerksamkeiten nötig macht. Auch ein neues Verständnis des Zusammenwirkens von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Also, was bei allen Pandemien in der Weltgeschichte so war: Die haben immer zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft geführt. Davor stehen wir auch, vor diesem Problem, jetzt wieder. Und das ist total interessant, und ich stimme Ihnen zu, dass die politischen Anbieter dieses Problem noch nicht richtig verstehen.“ (Heinz Bude im taz Talk am 9. Juli 2021).

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Es gibt kein Zurück. Es geht nur vorwärts. Bei disruptiven Entwicklungen gibt es keine Wiederholungen mehr. Es entstehen unwirkliche Zwischenräume: Das Alte funktioniert nicht mehr, und das Neue funktioniert noch nicht.

Nehmen wir die Entwicklung im Verlagsbereich. Blicken wir zurück. Den Umbruch zu einem öffentlich verpflichtenden Open Access. Der Wissenschaftsfreiheit war Genüge getan, weil eine Print-Veröffentlichung immer noch möglich blieb. Alles gut.

In den Bibliotheken voller Bleiwüsten zwischen Buchdeckeln, in denen wir noch studiert hatten, schien das letzte Abendglimmen einer untergehenden Verlagslandschaft noch einmal kurz auf, und wir waren am Ende tatsächlich die letzte Generation, für die das noch dazugehört hatte: Die Bücherwelt, bevölkert mit Büchermenschen wie wir.

Als die Bücher lastwagenweise angeliefert wurden. Kartonweise. Palettenweise. Am Anfang hatte es noch etwas Beruhigendes. Als sie die Regale füllten in einem steten Strom, der nie zu enden schien, der aber schließlich dann doch versiegte. Das gedruckte Buch gab es seitdem nur noch zum vertieften Studium – oder als Coffee Table Book, weil es so schön war. In Einzelanfertigung, auf Anfrage.

Zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren.

Es dauerte keine zwei Jahre mehr, bis die Magazine abgebaut waren, weil sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Umstellung ging am Ende schneller als man je gedacht hätte. Und die Studenten waren sowieso schon seit mehreren Generationen daran gewöhnt, ihre Zeitschriften online zu lesen. Erst auf dem Laptop, später auf dem iPad. Der Übergang verlief ziemlich geräuschlos, denn das Geschäftsmodell Zeitschrift funktionierte ja auch schon lange nicht mehr. Erst gab es zu den Print-Abos die Online-Fassung dazu, später war es umgekehrt, schließlich fiel Print ganz weg, schließlich die Zeitschrift.

Die Älteren erinnerten sich noch an das Blättern in gedruckten Büchern, die Vorsichtsmaßnahmen zu ihrer Erhaltung – wie sie aufzustellen wären, wie sie zu greifen wären, damit sie möglichst langsam verschleißten. Nach Größe sortiert ins Magazin gestellt. Überhaupt: Magazine. Speicherplatz ist billig.

Was blieb, war der reine Content. Der bloße Text auf dem Bildschirm, flüchtig und austauschbar und seelenlos und leer. Und diese Leere übertrug sich beim Lesen und erfüllte uns schließlich ganz. Etwas fehlte.

Ein Ort, an dem wir noch nicht waren.

Wir kamen dorthin, ziemlich unbemerkt. Plötzlich fanden wir uns in einer ganz anderen Gegend wieder, fast wie in einem Roman von Ror Wolf. Kaum Widerstand, nur wenige wünschten sich in die alte Welt zurück. Als die Pandemie begann, waren wir genaugenommen schon lange an dem neuen Ort, aber erst damals merkten wir es so richtig, wir mussten uns nur noch darin zurechtfinden.

Als die Bibliotheken schlossen und nur noch E-Books und E-Journals und Dokumentenserver verblieben: Fehlte uns eigentlich nichts. Als die Pandemie Lücken in den Printbestand riss: Merkten es nur wenige. Denn die Bibliothek war längst schon überall, wo man Zugriff auf ihre digitalen Bestände hatte. Also überall. Und eine Bibliothek, die nicht überall war, war nirgends. War gar nicht. Es gab sie gar nicht. Jedenfalls nicht wirklich.

Als der alte Raum nicht mehr passte, entstand ein neuer Rahmen. Und es galt, das Neue im Neuen zu finden und von nun an zum Ausgangspunkt zu machen für alles, was folgte.

Der Ort, an dem wir noch nicht waren, war der Ort, von dem nun alles weitere seinen Gang nahm.