- Ernest Cushing Richardson: The Beginnings of Libraries, Princeton University Press, Princeton, London: Humphrey Milford, Oxford University Press, 1914, von Chris Curnow und dem Online Distributed Proofreading Team bei pgdp.net, veröffentlicht am 2. September 2015.
Archiv der Kategorie: Geschichte
Gardiner über Bach
Die BBC hat John Eliot Gardiners Dokumentation über Johann Sebastian Bach aus dem Jahr 2013 im eigenen Kanal auf YouTube veröffentlicht: Bach. A passionate life dauert eineinhalb Stunden und ist absolut sehens- und hörenswert.
Angesichts der zahllosen Raubkopien ihrer Beiträge hat die BBC nun wohl sozusagen die Flucht nach vorn angetreten und stellt hochwertige Kopien selbst auf YouTube ein.
(via Philoblog)
Zuerst bei albatros | texte, 6. April 2015.
Der Graben ist tiefer geworden
Günter Hack denkt resümierend über die Verschiebungen der letzten Jahrzehnte nach. Wie beziehen sich Gesellschaften bei ihrer Entwicklung aufeinander? Gibt es zwischen ihnen eine Art „Rangordnung“ – fortschrittlichere, die vorangehen, und Nachahmer oder late adopters? Welche Trends sind zu erkennen?
„Dank Netz gibt es keine Alpha-Gesellschaften mehr, die gesamtgesellschaftliche Trends für ‚den Rest der westlichen Welt‘ vorwegnehmen. Es gibt nur noch Länder, in denen das neue Apple-Gadget schneller ausgeliefert wird als in anderen. Das ist vielleicht die letzte echte Rangordnung, aber auch sie sagt wenig aus.“
Und: „Im Kalten Krieg orientierte sich die bundesdeutsche Politik wesentlich stärker an den angloamerikanischen Ländern als heute. Es war auch praktisch, schon mal sehen zu können, was funktioniert und was nicht. Das geht heute aus mehreren Gründen nicht mehr, was zuweilen den Eindruck von Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit beim Betrachter hinterlässt. … irgendwas hat sich da gegabelt, auseinanderentwickelt, desynchronisiert“
Könnte man so sehen. – Es ist paradox: Je näher sich die Gesellschaften durch Globalisierung und Digitalisierung gekommen sind, desto mehr entfremden sie sich voneinander. Das Recht tut ein übriges: Was dem einen sein „Recht auf Vergessenwerden“, ist dem anderen „Zensur“. Die Gräben sind tiefer geworden.
Nachtrag, 3. April 2015: Constanze Kurz weist auf netzpolitik.org auf den Beitrag in der Charlemagne-Kolumne des Economist vom 4. April 2015 hin, der zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt: „Yet the transatlantic data divide will not close soon.“
Sich informieren IV
Der Nachruf ist eine hierzulande viel zu wenig beachtete literarische Gattung. Beim Tod des FAZ-Herausgebers Schirrmacher konnte man gerade wieder sehen, was dabei herauskommen kann. Der Tag auf hr2-kultur sprach darüber mit Jochen Hörisch, und auch er fand das zumeist hochpeinlich, blieb dabei aber nicht stehen. Der Sendung verdanke ich den Hinweis auf die Nachrufe im Guardian, die wirklich lesenswert sind. Häufig werden dort hierzulande weniger bekannte Personen beschrieben. Das gleiche gilt übrigens für die Nachrufe in Le Monde und in El País und in der New York Times. Kleine abgeschlossene Lebensgeschichten, die – anhand der Massenmedien – zeigen, wie relativ die Bedeutung ist, die dort Biographien beigemessen wird. Die Welt ist voller Nachrufe. Am Ende bleibt die Erinnerung und wird zur Geschichte. Lauter kleinere und größere Übergänge. Man kann sie im Feedreader mitlesen und sollte das auch tun. Ein fast tägliches memento mori.
„Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“ im Museum für Kommunikation Frankfurt am Main
Ende der 1990er Jahre veröffentlichte Daniel Goldhagen sein Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, in dem er unter anderem die These aufstellte, der gesamtgesellschaftliche Antisemitismus in Deutschland sei eine zentrale Triebkraft des Holocaust gewesen. Der Antisemitismus hatte (und hat) sozusagen eine volkstümliche Seite. Und es gibt Zeugnisse dafür, die man auch heute noch auffindet und nachweisen kann. Nicht nur auf der Straße oder an manchen Stammtischen begegnet man solchen Ansichten, sie sind vielerorts schon längst wieder salonfähig geworden. Wenn etwa Bernd Lucke von der AfD Michel Friedmann in einer Talkshow mal so eben über den Mund fährt, weil das seinen Wählern imponiert, und der Moderator dazu kommentiert, er, Friedmann, solle sich nicht so anstellen.
Hier geht es nun um den alltäglichen Antisemitismus, der sich ausbreitet in der Öffentlichkeit. Überwiegend ohne prominentes Gesicht. Mit kleinen Aufklebern, die in Bahnzügen und auf der Straße angebracht werden, an Ladengeschäften, und zwar in ziemlich großer Zahl. Und das auch nicht erst in den 1920er und 1930er Jahren, sondern schon im Kaiserreich, so daß es auch schon früh zur Gegenwehr kam. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens mobilisierte seit 1893 gegen die antisemitische Propaganda, unterstützt übrigens von Bürgern aller Konfessionen.
Die Ausstellung „Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“, die seit dieser Woche im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main gezeigt wird, versucht zu rekonstruieren, wie das wohl gewesen sein mag. Aufkleber breiteten sich – ähnlich wie die etwas älteren Flugschriften – seit der Jahrhundertwende massenhaft aus. Sie waren als Sammelbilder, wie man sie heute noch kennt, in erster Linie ein Werbemedium für kommerzielle Zwecke, das in Alben eingeklebt wurde. Aber es gab eben auch andere Motive. Aus dem Jahr 1893 datiert eine runde blaue Klebemarke, auf der steht: „Kauft nicht bei Juden!“ Seit Anfang der 1920er Jahren nimmt das zu, breitet sich diffus aus, weil man die Täter nicht kennt. Ich stelle mir das unheimlich vor. Es dürfte bei den Betroffenen zu einer erheblichen Verunsicherung durch dieses Mobbing gekommen sein. Gegenaufrufe entstehen. Man fordert dazu auf, sich nicht zurückzuziehen, sondern sich einzumischen, zum Beispiel in die Vereine zu gehen und für die eigenen Rechte einzutreten. Es kommt auch zur Solidarisierung, etwa in einem Kegelverein in Breslau, wo gegen das Aufkleben solcher Marken von den Mitgliedern vorgegangen wurde. Das war aber eine Ausnahme. Als sich die Marken auch auf Briefen ausbreiteten ergeht ein Erlaß des Reichspostministeriums, um das zu untersagen. Nachdenklich macht die Vitrine am Eingang der Schau, in der eine Sammlung von Liebesbriefen aus der Zeit zwischen 1920 und 1923 zu sehen ist, jeder Umschlag trägt eine Marke mit einem antisemitischen Zitat. Da hatten sich zwei gefunden.
Ein besonders eklatantes Beispiel war das Hotel Kölner Hof, das, direkt am Frankfurter Hauptbahnhof gelegen, schon vor der Jahrhundertwende mit imitierten Bahnfahrkarten mit dem Aufdruck „Freikarte nach Jerusalem“ aufgefallen war, „gültig ab jeder Deutschen Station, nicht übertragbar, hin und nicht wieder zurück“. Der Betreiber des Hotels Hermann Laass, ein Frankfurter Stadtverordneter, bezeichnete sein Haus, das 1889 gegründet worden war, seit 1893 als ein „judenfreies Hotel“ – auch davon zeugen kleine Briefsiegelmarken. Er veranstaltete antisemitische Tagungen und stattete sein ganzes Haus mit entsprechenden Parolen aus, „jüdischer Besuch verbeten“, bis in die Tischdekoration und das Geschirr hinein. Als er damit begann, auch den Außenbereich dementsprechend zu dekorieren, wurde ihm von der Stadt Frankfurt die Außenbestuhlung verboten. Er machte trotzdem weiter.
Die Ausstellungsstücke stammen aus der Sammlung des Berliners Wolfgang Haney, der das Dritte Reich als Kind erlebte. Seine Mutter war Jüdin. Als er in den 1990er Jahren auf Postkarten mit judenfeindlichen Motiven aufmerksam wurde, beginnt er, sie zu sammeln. Es gibt einen Markt für solche Dinge, es gibt Händler und Auktionen, und die Preise seien entsprechend hoch. Auch die Klebemarken, die hier gezeigt werden, stammen aus diesem Umfeld. In zwei Interviews hat Haney über sein Leben und über seine Sammlung erzählt, zum einen gegenüber der Bundeszentrale für politische Bildung, aber auch vor etwa einem Jahr im RBB-Inforadio. Auch bei Spiegel Online Einestages findet sich ein Beitrag zum Thema mit Abbildungen zeitgenössischer Klebemarken.
Die Ausstellung endet mit einem Blick auf die Gegenwart. Den Antisemitismus und den Rassismus gibt es weiterhin, auch die Motive wiederholen sich. Im Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 verteilte die NPD ein „Rückflugticket“ mit der Aufschrift: „Ab Deutschland, Ziel Heimat, One way“. Und in einem Video wird eine pensionierte Berliner Lehrerin interviewt, die mit dem Herdkratzer durch die Straßen geht, um die heutige Neonazi-Propaganda von den Laternenmasten zu entfernen. „Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“ schärft den Blick dafür.
„Angezettelt – Antisemitismus im Kleinformat“. Museum für Kommunikation Frankfurt am Main, bis 21. September 2014. Kuratoren: Isabel Enzenbach und Marcus Funck, jeweils Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin. Das begleitende Material findet man auf der Website des Museums, lesenswert sind insbesondere die Ausstellungstexte. Auf Flickr findet man ein Album mit den Pressephotos.
Wikipedia-Maschinenraum an Elfenbeinturm
Ein kurzer Zwischenruf aus dem Maschinenraum in Richtung Elfenbeinturm ist angezeigt.
Über Archivalia erfahre ich, daß Thomas Wozniak von der Universität Marburg nebenan im Mittelalter-Blog auf hypotheses.org vorgeschlagen hat, Wikipedia-Artikel in wissenschaftlichen Arbeiten zu zitieren, wenn ihr „Hauptautor“ zu ermitteln wäre.
Der Blogpost war angeregt worden durch ein neues Tool, das Benutzer APPER vor ein paar Wochen bereitgestellt hatte. Das Skript WikiHistory wertet die Versionsgeschichte von Wikipedia-Artikeln aus und erlaubt daher Angaben über die mengenmäßigen Anteile, die die jeweiligen Autoren zu der letzten Version des Texts beigetragen haben. Man kann dieses Skript im eigenen Benutzernamensraum durch schlichten Eintrag in die eigene common.js aktivieren. Das JavaScript blendet dann oberhalb eines Artikels die jeweiligen statistischen Angaben ein. Wer es ausführlicher haben möchte, sei auf die entsprechende Version auf WMFLabs verwiesen.
Was ist dazu zu sagen? Zunächst zu WikiHistory: Für mich als Wikipedia-Autor ist WikiHistory eine wertvolle und überfällige Lösung, die es mir erlaubt, schnell zu überblicken, welche Kolleginnen und Kollegen an einem bestehenden Artikel bereits gearbeitet haben – im positiven wie im negativen Sinne. Pessimistisch gewendet, kann man damit potentiellen Problembären – das heißt: Konflikten – aus dem Weg gehen, optimistisch gesehen kann man aus der Autorschaft Rückschlüsse auf die Qualität des Artikels ziehen, wenn man darüber informiert ist, wie die bisherigen Autoren sonst in Erscheinung getreten sind. Dafür konnte man bisher auf eine ähnliche Auswertung auf dem Portal Wikibu zurückgreifen, wo ebenfalls die wichtigsten Autoren eines Artikels angezeigt wurden, aber eben sehr viel kruder. Einem Nur-Leser von Wikipedia, der über die Autorengemeinde nicht so gut im Bilde ist, werden die Prozentzahlen dagegen insoweit kaum weiterhelfen, ihm erleichtert das Tool lediglich die überschlägige Abschätzung der Angaben in der Versionsgeschichte des Artikels. Im übrigen bewertet das Werkzeug nur den Anteil der Textmenge in Bytes gemessen. Qualitative Aussagen über die redaktionelle Leistung von Autoren, über die Lesbarkeit des Texts usw. bleiben außen vor.
Kann dieses Tool nun für die Zitierfähigkeit von Artikeln fruchtbar gemacht werden? Dazu sollte man zwei Aspekte unterscheiden: Zum einen die Frage, ob man wissenschaftliche Arbeiten auf Wikipedia stützen kann, zum anderen die Frage, ob die Autorenangaben aus WikiHistory einen Artikel „zitierfähiger“ machen als er ohnehin schon ist – oder eben nicht ist.
Wikipedia eignet sich als Beleg für wissenschaftliche Arbeiten genaugenommen nur in einer Hinsicht: Man kann damit zeigen, was die Gruppe der Wikipedianer, die sich mit einem Thema beschäftigen, in einer bestimmten Zeit zustandegebracht hat. Was sie an Belegen zusammengetragen haben, welche möglichst „neutralen“ Aussagen ihnen zu dem Thema eingefallen sind, welche Diskussionen sie dazu geführt haben. Mehr nicht. Eine Aussage darüber, ob das, was man dort vorfindet, zutreffend ist oder nicht, wird erst möglich sein, wenn der Leser eigene Forschungen zu dem Thema durchgeführt hat.
Ändert sich dadurch etwas, wenn wir den „Hauptautor“ eines Artikels kennen? Das ist derjenige, der den Artikel laut WikiHistory ganz überwiegend geschrieben hat. Nicht wirklich. Auch für diesen Fall gelten die gleichen Prämissen wie zuvor, nur mit der Maßgabe, daß man jetzt eben erfährt, was sich der „Hauptautor“ überlegt hatte, als er den Artikel schrieb.
Wäre es anders, wenn der „Hauptautor“ über einen Account arbeitet, der einen „natürlich“ klingenden Namen trägt? Wozniak meint, dadurch werde ein Artikel wissenschaftlich zitierbar, weil seine Urheberschaft dann feststehe. Als Beispiel nennt er Artikel, die der Account „Benutzer:Frank Schulenburg“ angelegt hatte. Auch das führt indes zu keiner anderen Bewertung, denn auch die Behauptung eines Autors, unter seinem Realnamen in Wikipedia zu arbeiten, läßt für den Außenstehenden regelmäßig nicht den Schluß zu, daß dahinter tatsächlich eine bestimmte Person stehe. Wikipedia kennt kein Verfahren, um sicherzustellen, daß die digitale Identität eines Accounts bzw. eines Accountnamens mit der natürlichen oder der rechtlichen Identität einer Person übereinstimme. Das gilt übrigens auch und gerade für das Verfahren der sogenannten Verifizierten Accounts, über die Institutionen und sonstige Benutzer an Wikipedia teilnehmen. Mit anderen Worten: Jeder kann sich in Wikipedia unter dem Namen „Helmut Schmidt“ anmelden. Dahinter kann sich ohne weiteres Angela Merkel verbergen. Oder in den Worten von Paul Steiner: On the Internet, nobody knows you’re a dog.
Michael Schmalenstroers Argument zu dem immer und jederzeit zitierfähigen Pseudo-Xenophon tritt freilich hinzu. Ich wüsste ebenfalls „nicht, warum man die Zitierfähigkeit eines Wikipedia-Artikels davon abhängig machen sollte, ob man einen Hauptautoren mit Klarnamen ausfindig machen kann.“ Entscheidend ist, ob das, was da steht, stimmt oder nicht.
Der kompetente Umgang mit Quellen ist eben doch etwas schwieriger als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wobei zuzugeben ist, daß die Zusammenhänge zwischen Technik und Bedeutung bei kollaborativ erstellten Texten durchaus noch der Ausarbeitung harren. Bis zu einer wirklich aussagefähigen Theorie des Wikis oder des Web 2.0 ist es bisher nicht gekommen, sie steht noch aus. Man denke nur an die Klimmzüge, die manche Gerichte vollzogen haben, wenn es darum ging, ob das Setzen eines Links auf eine andere Website dazu führe, daß man sich die dortigen Inhalte „zu eigen macht“.
Diese und ähnliche Gedanken hätte d. Verf. gerne in den Kommentaren des Mittelalter-Blogs geäußert, sein Beitrag ist dort aber leider nicht freigeschaltet worden. So kam es zu dieser etwas ausführlicheren Erwiderung.