Archiv der Kategorie: Netzkultur

Der Wanderer LXII

Ich blogge seit fast 14 Jahren, aber es ist ziemlich viel passiert in der letzten Zeit, worüber ich nicht geschrieben hatte. Vieles, was mich tiefer beschäftigt hatte, eignete sich einfach nicht zur Veröffentlichung. Manches war vertraulich, manches war zu persönlich oder es hätte sonst zu sehr die Interessen anderer betroffen, so dass es nicht möglich war, es in die Öffentlichkeit zu tragen. Zumal in ein Internet, das zwar nicht nichts vergisst, aber eben doch auch einiges behält. Man weiß bloß nicht vorab, was von dem vielen.

Nach einer so langen Zeit, in der ich mich recht umfangreich öffentlich mitgeteilt und an so vielen Diskussionen beteiligt hatte, war es aber auch einmal gut, sich zurückzunehmen und eine Weile eher ins Off zu gehen. Es fühlte sich passender an, als einfach so weiterzumachen wie bisher. Auch im Nachhinein bestätigt sich der Eindruck, dass es die richtige Entscheidung war innezuhalten.

Also neu ansetzen, aber ganz von vorne, das geht ja gar nicht.

Ich befinde mich in einer Übergangsphase, die schon einen langen Moment andauert, mehrere Jahre schon. Ich achte auf den Kairos, den glücklichen Moment, in dem etwas Neues anfangen kann, anfangen darf und soll, damit es gut wird, damit es sich stimmig anfühlt.

Gelernt habe ich in diesem Jahr, dass nicht gut werden kann, was von Anfang an vergiftet ist, was unpassend ist. Was nicht zusammenpasst, kann man nicht zurechtstutzen. Zweimal abgeschnitten, und immer noch zu kurz. Daraus entsteht keine glückliche Gestalt.

Als Konstante hat sich ein Mantra erwiesen:

Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue funktioniert noch nicht.

Der Soziologe Stephan Lessenich hatte in seinem Buch „Nicht mehr normal“ gerade einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert. Er schrieb auf S. 37:

Genau das ist die gesellschaftliche Situation in Deutschland heute: eine Gesellschaft, deren Normalitätsproduktion ins Stocken geraten ist und der die Trägergruppen des Normalen abhandenkommen. Eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann, die an ihren Gewissheiten zu zweifeln und an der Zukunft zu verzweifeln beginnt.

Ob es sich dabei schließlich um

Eine Gesellschaft – am Rande des Nervenzusammenbruchs

handelt, mag jede/r für sich beurteilen.

Jedenfalls wird es seit etwa fünf Jahren immer deutlicher. Es begann schon vor Corona. Genaugenommen war Corona schon lange vor Corona. Die alten Strukturen, die alten Verlässlichkeiten gelten nicht mehr. Eigentlich gibt es nur noch eine Gewissheit: Dass etwas bei der nächsten Begegnung, beim nächsten Anlass nicht mehr so sein wird, wie man es vom letzten Mal in Erinnerung hat. Deshalb muss man sich ständig neu orientieren. Man befindet sich dauerhaft auf der Suche. Darauf muss man sich einstellen.

Alles bleibt anders.

Davon wäre zu sprechen.

Nehmen wir mal das Internet. Das ist nämlich schon sehr lange nicht mehr mein Internet. Es ist nicht mehr das Internet, wie wir es kannten. Die Dimension der Zeitlichkeit ist hinzu gekommen. Zu viele zu liebe Menschen fehlen mittlerweile darin, für immer. Wikipedianer, aber auch Blogger, Netzmenschen wie ich, die für immer gegangen sind und die ganz sicher im Himmel auf uns warten, wenn es einen gibt. Daran will ich einfach glauben.

Sind wir eine „Lost generation“? Der Begriff wurde von Gertrude Stein geprägt und stammt aus der Umbruchzeit des Ersten Weltkriegs. „You are a lost generation“ sagte sie über die damals gerade volljährig gewordene Schriftstellergeneration. Das ist eine unbefriedigende Konstruktion, aber sie ist auch nicht ganz abwegig, denn was könnten wir – jetzt einmal unabhängig vom Lebensalter – gewinnen? Jedenfalls würde es eine Weile dauern, bis es einträte.

Viel Grundlegendes gibt es also auch weiterhin zu erörtern. Und ich werde mich in der nächsten Zeit wieder mehr im Blog dazu äußern und versuchen, unter den geänderten Bedingungen zu reflektieren. So wie früher, also? Freilich nicht ganz. Vielleicht aber ähnlich.

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Langstrecke

Man merkt, dass man älter wird, wenn die Blogs, die man liest, bei den Goldenen Bloggern 2022 in der Kategorie Langstrecke nominiert worden sind:

Herzlichen Glückwunsch! Ich drücke euch allen drei die Daumen! Wenn auch nur eine/r gewinnen kann. Aber warum kann eigentlich nur eine/r gewinnen? Verdient hättet ihr die Auszeichnung alle!

Die Preisverleihung soll am 4. April in Berlin stattfinden.

PS. Ja, ich weiß, dass rivva eigentlich „nur“ ein Nachrichtenaggregator ist…

Der Wanderer LXI

2021 war das Jahr der nicht geposteten Blogbeiträge. Ich weiß nicht mehr, wie viele Texte ich mir ausgedacht, zumindest in Gedanken entworfen, tatsächlich begonnen, geschrieben, abgebrochen, dann doch fortgesetzt, sogar ins Blog übertragen, dann wieder verworfen oder sogar gepostet und wieder gelöscht hatte. Es waren nicht wenige. Mit der Zeit wurden es immer mehr. Jedenfalls waren es zu viele.

Aus Gründen. Mein Feedreader sagt, es sei nicht nur mir so gegangen. Einige machen mehr oder weniger weiter wie früher. Aber auch bei ihnen merkt man, dass sich etwas verändert hat. Die Rückblicke fallen aus in dieser Saison. Und die Ausblicke mag sich keiner ausmalen. Die Gereiztheit bleibt. Das Umfeld lädt nicht zur Meinungsäußerung ein.

Ich mochte meistens lieber nicht.

Relaunch von sozialgerichtsbarkeit.de

Harald Thomé weist in seinem letzten Newsletter auf den Relaunch der Website sozialgerichtsbarkeit.de hin. Hinter dem Suchformular verbirgt sich ein veritabler Klassiker unter den freien Rechtsportalen, nämlich die Volltexte vieler sozialgerichtlicher Entscheidungen, auch von Instanzgerichten, zurückgehend bis zum Beginn des Internetzeitalters und darüber hinaus, teilweise bis in die 1980er Jahre. Beschlüsse und Urteile von Sozialgerichten aller Bundesländer und aller Instanzen unter einer Oberfläche recherchierbar – im Gegensatz zu den nach Ländern zersplitterten Rechtsprechungsdatenbanken. Ein Zugang zur gesamten sozialrechtlichen Rechtsprechung, ein wichtiges Stück Rechtsgeschichte.

Leider ist die neue Version nur noch nach Stichworten durchsuchbar, früher ging da mehr, es gab eine erweiterte Suche und leistungsfähige Filter, die Sortierreihenfolge entzieht sich meiner Einschätzung und es ist definitiv Luft nach oben, es gab auch mal einen Download der Volltexte als PDF und XML, aber alles ist frei abrufbar, immerhin. Es ging wohl darum, die Inhalte nach dem Untergang der alten Website überhaupt zu retten und sie wieder online zu stellen. Geblieben ist immerhin ein Formular für die neuen Entscheidungen, in dem man auch nach Aktenzeichen und nach Rechtsgebieten suchen kann. Vielleicht tut sich da ja noch was, es wäre schön! Mag auch sein, dass mich meine Erinnerung trügt und mir die Vergangenheit allzu goldrandig erscheint…

Eine Initiative der Sozialgerichte, die viel zu wenig bekannt ist. Und die den Blick darauf lenkt, dass die Rechtsinformatik einst mit dem Arbeits- und Sozialrecht begann. Auch Juris wurde zunächst mit Inhalten aus diesen Rechtsgebieten aufgebaut. Bevor alles kommerzialisiert und verpaywallt wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Ort, an dem wir noch nicht waren

„Die Formel, die ich wählen würde, wäre: Wir müssen rückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren. Und das scheint mir genau das Problem zu sein. Es gibt Rückkehr, und wir wollen Rückkehr in ein normales Leben. Aber wenn man ganz ehrlich ist, wissen wir, dass die Normalität, die wir dann haben werden, eine andere Normalität ist, die auch andere Vulnerabilitäten mit sich bringt, andere Aufmerksamkeiten nötig macht. Auch ein neues Verständnis des Zusammenwirkens von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Also, was bei allen Pandemien in der Weltgeschichte so war: Die haben immer zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft geführt. Davor stehen wir auch, vor diesem Problem, jetzt wieder. Und das ist total interessant, und ich stimme Ihnen zu, dass die politischen Anbieter dieses Problem noch nicht richtig verstehen.“ (Heinz Bude im taz Talk am 9. Juli 2021).

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Es gibt kein Zurück. Es geht nur vorwärts. Bei disruptiven Entwicklungen gibt es keine Wiederholungen mehr. Es entstehen unwirkliche Zwischenräume: Das Alte funktioniert nicht mehr, und das Neue funktioniert noch nicht.

Nehmen wir die Entwicklung im Verlagsbereich. Blicken wir zurück. Den Umbruch zu einem öffentlich verpflichtenden Open Access. Der Wissenschaftsfreiheit war Genüge getan, weil eine Print-Veröffentlichung immer noch möglich blieb. Alles gut.

In den Bibliotheken voller Bleiwüsten zwischen Buchdeckeln, in denen wir noch studiert hatten, schien das letzte Abendglimmen einer untergehenden Verlagslandschaft noch einmal kurz auf, und wir waren am Ende tatsächlich die letzte Generation, für die das noch dazugehört hatte: Die Bücherwelt, bevölkert mit Büchermenschen wie wir.

Als die Bücher lastwagenweise angeliefert wurden. Kartonweise. Palettenweise. Am Anfang hatte es noch etwas Beruhigendes. Als sie die Regale füllten in einem steten Strom, der nie zu enden schien, der aber schließlich dann doch versiegte. Das gedruckte Buch gab es seitdem nur noch zum vertieften Studium – oder als Coffee Table Book, weil es so schön war. In Einzelanfertigung, auf Anfrage.

Zurückkehren an einen Ort, an dem wir noch nicht waren.

Es dauerte keine zwei Jahre mehr, bis die Magazine abgebaut waren, weil sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Umstellung ging am Ende schneller als man je gedacht hätte. Und die Studenten waren sowieso schon seit mehreren Generationen daran gewöhnt, ihre Zeitschriften online zu lesen. Erst auf dem Laptop, später auf dem iPad. Der Übergang verlief ziemlich geräuschlos, denn das Geschäftsmodell Zeitschrift funktionierte ja auch schon lange nicht mehr. Erst gab es zu den Print-Abos die Online-Fassung dazu, später war es umgekehrt, schließlich fiel Print ganz weg, schließlich die Zeitschrift.

Die Älteren erinnerten sich noch an das Blättern in gedruckten Büchern, die Vorsichtsmaßnahmen zu ihrer Erhaltung – wie sie aufzustellen wären, wie sie zu greifen wären, damit sie möglichst langsam verschleißten. Nach Größe sortiert ins Magazin gestellt. Überhaupt: Magazine. Speicherplatz ist billig.

Was blieb, war der reine Content. Der bloße Text auf dem Bildschirm, flüchtig und austauschbar und seelenlos und leer. Und diese Leere übertrug sich beim Lesen und erfüllte uns schließlich ganz. Etwas fehlte.

Ein Ort, an dem wir noch nicht waren.

Wir kamen dorthin, ziemlich unbemerkt. Plötzlich fanden wir uns in einer ganz anderen Gegend wieder, fast wie in einem Roman von Ror Wolf. Kaum Widerstand, nur wenige wünschten sich in die alte Welt zurück. Als die Pandemie begann, waren wir genaugenommen schon lange an dem neuen Ort, aber erst damals merkten wir es so richtig, wir mussten uns nur noch darin zurechtfinden.

Als die Bibliotheken schlossen und nur noch E-Books und E-Journals und Dokumentenserver verblieben: Fehlte uns eigentlich nichts. Als die Pandemie Lücken in den Printbestand riss: Merkten es nur wenige. Denn die Bibliothek war längst schon überall, wo man Zugriff auf ihre digitalen Bestände hatte. Also überall. Und eine Bibliothek, die nicht überall war, war nirgends. War gar nicht. Es gab sie gar nicht. Jedenfalls nicht wirklich.

Als der alte Raum nicht mehr passte, entstand ein neuer Rahmen. Und es galt, das Neue im Neuen zu finden und von nun an zum Ausgangspunkt zu machen für alles, was folgte.

Der Ort, an dem wir noch nicht waren, war der Ort, von dem nun alles weitere seinen Gang nahm.

Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz

Es ist jetzt der zweite Durchgang des Bachmannpreises, den ich beruflich bedingt nicht live verfolgen konnte, und am Ende schaut man sich die Videos dann ja doch nicht mehr alle an. Man sucht Zuflucht bei den Zusammenfassungen in den Feuilletons oder beim Literaraturcafé-Podcast, wo Andrea Diener und Wolfgang Tischer auch in diesem Jahr tapfer nacherzählen, was passiert war. Andrea trotz Impfung in ihrer mollig warmen Frankfurter Dachgeschosswohnung, und Wolfgang dieses Jahr getestet vor Ort in Klagenfurt, wo sich die Getesteten, Geimpften und Genesenen beim Public Viewing in der Hitze trafen.

Risikogruppe, anyone? Der gerade verrentete Hubert Winkels ließ sich für seine Rede zur Literaturkritik aus der Ferne zuschalten. Und die Jury kam diesmal im Studio zusammen, nur die Schriftsteller wurden per ORF-iPad hinzugeholt. Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz und lokal. Sie nannten es „hybrid“. Vielleicht tut man sich dann leichter, in die Ferne hinaus auszuteilen?

Heike Geißler ließ jedenfalls ihrem Unmut über die teils ganz offen dilettantische Performance einiger Jurymitglieder im Deutschlandfunk Kultur freien Lauf – und ging danach natürlich bei den Preisen leer aus. Klar.

Ganz knapp gehaltene Berichterstattung in der taz, von einer Autorin, die nicht vom Fach ist, sich aber Mühe gibt, den dünnen Wettbewerb auf den Punkt zu bringen, was ihr am Ende auch gut gelingt:

In Julia Webers Wettbewerbstext sagt Protagonistin Ruth zur Erzählerin: „… manchmal käme ihr das ganze Leben vor wie das Abtrocknen feuchter Hände an einem bereits feuchten Handtuch.“ Vielleicht hat Weber damit ein treffendes Bild für Gegenwartsliteratur gefunden.

Übrigens lag ich mit meiner Prognose völlig daneben. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte.