Archiv der Kategorie: Wirtschaft

Eine Metapher für die verwundete Gesellschaft

Der Handwerker kniet auf dem Boden und schlägt mit dem Hammer auf eine lange Holzlatte ein, die vor ihm liegt. Kreissägen kreischen durch das Erdgeschoss, und es riecht nach Farbe.

Nach mehr als einem Jahr bin ich in eines der größeren Kaufhäuser gegangen. Letztes Jahr war Ausverkauf. Also wirklich Aus-ver-kauf. Sie haben auch heute keine zu früher vergleichbare Auswahl bei den Produkten. Alles ist geschrumpft, und es gibt viel Platz zwischen den Regalen und den Warentischen. Auch kaum Personal.

Ich suche nach der Kasse. Das Schild, das den Weg weist, zeigt ins Nichts. Die Kasse ist leider nicht besetzt. Sie können entweder nach unten gehen zu den Süßwaren oder ein Stockwerk höher, da hinten ist die Rolltreppe. Nein, die geht nicht, die ist außer Betrieb. Also nach unten. Eine lange Schlange. Es dauert ewig. Also doch nach oben. Umweg: Es gibt noch eine andere Rolltreppe. Eine kürzere Schlange. Möchten Sie eine Plastiktüte für zehn Cent? Nein, danke, ich habe einen Baumwollbeutel dabei. Die Plastiktüte war früher ein stolzer und moderner Werbeträger, heute ist sie ein teures Teil, das keiner mehr haben will. Nicht wirklich.

Zur Projektplanung setze ich seit vielen Jahren auf analoges Werkzeug: Einen schönen Taschenkalender und ein farblich dazu passendes Clairfontaine-Heft. Der Kalender ist bestellt. Das Heft gabs nicht kariert. Also linierte Kladden vom selben Hersteller. Hatte ich zum letzten Mal 2016. Als das alles begann. Und lange vor dem ganzen Rest. Also genaugenommen ein gutes Zeichen.

Auch die Bauarbeiten in den Geschäften könnte man positiv sehen, es wird investiert. Aber mit fremdem Geld, das man ohne weiteres verbrennen kann, ohne dass es weh täte, wenn es später abgeschrieben würde.

Auch auf der Straße: Bauarbeiten. Dauerregen auf die Baustelle.

Das Bild, das die Geschäfte und die große Einkaufsstraße bieten, wirkt wie eine Metapher für die verwundete Gesellschaft im ganzen. Sie lässt mich fassungslos zurück.

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Zwanzig Jahre Wikipedia: Dokumentarfilm auf Arte

Das transnationale Medium Arte beschreibt in einem Dokumentarfilm, der am 5. Januar 2021 im linearen Programm läuft lief, das transnationale Projekt Wikipedia und nimmt dabei eine Position ein, die derjenigen der Wikimedia Foundation beim Blick auf ihre Operationen nicht unähnlich sein dürfte.

Aus den Interviews wurde nicht deutlich, welche der Wikipedianer, die dort gezeigt wurden, denn nun eigentlich je miteinander auf Wikipedia zu tun bekommen hätten. Immerhin zwei aus der deutschsprachigen Wikipedia waren darunter, aber die anderen sprachen jeweils nur über ihre eigene Sprachversion, und diese finden nicht zueinander.

Auf dieser globusdrehenden Metaebene verschwindet auch die Unzufriedenheit der Community an den Verhältnissen vollständig.

Was bleibt, ist ein Dilemma: Wikipedia als mächtiger information hub und zugleich als verletzlicher Gigant in einer Umwelt von Fake News. Viel genutzt, aber bis heute nicht alternativlos.

Die Rolle der Bibliotheken und vor allem der Verlage im Markt der Informationen fehlte ganz. Die Ökonomie der Inhalte, aus denen die Wikipedianer schöpfen, wenn sie sich bei ihrer Arbeit auf Literatur stützen.

Es ist kein kritischer Film.

Lorenza Castella, Jascha Hannover: Das Wikipedia Versprechen. 20 Jahre Wissen für alle? WDR. Deutschland. 2020. Verfügbar in der Arte-Mediathek bis 4. April 2021.

6. Januar 2021: Das Video des Films habe ich nachträglich in den vorstehenden Beitrag eingebettet, nachdem es auf YouTube eingestellt worden war.

25. Mai 2021: Das Video wurde mittlerweile von Arte depubliziert. Der Platzhalter verbleibt in mahnendem Gedenken an dessen Stelle.

(K)ein Bericht von der Frankfurter Buchmesse 2020 #fbm20

Meine Berichte über die Frankfurter Buchmesse reichen bis ins Jahr 2009 zurück, meine Besuche noch viel länger. Die Eindrücke, die ich dabei gesammelt hatte, waren für mein Verständnis des Medienwandels prägend. Es war stets eine riesige Inszenierung, in der die alte Medienwelt für eine Woche noch einmal reproduziert wurde, mit Hörfunk und Fernsehen, die Zeitungen waren auch alle da, und überhaupt: Bücher. Die Buchverlage. International. Gedruckt. Merkwürdig, als sie E-Book-Reader ausstellten. In einem Regal. Und mich dann fragten, ob mir das Layout auf dem Reader gefalle.

Aber es wurde dann auch deutlich: Von Jahr zu Jahr fiel es schwerer, das Produkt „Buchmesse“ noch einmal zu erzeugen, wie man es kannte. Die Hallen wurden immer leerer. Schließlich wurden ganze Hallen unter Vorwand aufgegeben. Wo früher der Platz knapp war, wurde zwischenzeitlich der Raum verschenkt, damit es nicht so auffiel, wie alles schrumpfte. Beispielhaft: Die auffällig kleinen Stände von Springer Nature oder DeGruyter im letzten Jahr. Der Messebetrieb verschwand mehr und mehr aus den Hallen, der Rechtehandel wuchs dagegen kräftig. Wer das nicht vor Ort beobachten konnte, sondern nur die Berichterstattung in den Massenmedien sah, merkte davon allerdings weniger. Die Inszenierung „Buchmesse“ wurde stabil gehalten. Es bestand ein Interesse daran, dass es so blieb.

Als es auf die diesjährige Ausgabe zulief, herrschte business as usual. Die Pressemappe kam herein. Der Ausblick auf die nächsten Gastländer. Whitepapers wurden verteilt. Und dann kam Corona. Und die Leipziger Buchmesse wurde abgesagt. Und wir gingen alle ins Homeoffice. Auch der Internetauftritt des Börsenblatts wurde aus dem Homeoffice neu gelauncht. Angeblich deshalb fehlt die Suchfunktion dort bis heute. Und auch der RSS-Feed wurde nicht ordentlich eingebaut, so dass man ihn auch in der Adresszeile des Webbrowsers angeboten bekäme. Kein Kommentar zum Print-Stylesheet. Warum das aus dem Homeoffice nicht möglich sein sollte, entzieht sich derweil einer Begründung. Dann kam ein trotziges „Erst recht!“ aus Frankfurt. Bis man merkte, dass es gar nicht an den Organisatoren bei der Messe liegen würde, ob es eine Buchmesse geben würde. Wenn unter den bestehenden Umständen niemand mit vertretbarem Aufwand anreisen und arbeiten kann, stellen sich keine weiteren Fragen über eine Präsenzveranstaltung der bisherigen Größenordnung mehr. Also nur noch online. Von einer Insolvenz des ganzen Betriebs war bisher noch nicht die Rede, aber von einem „Millionenverlust“ sprach man. Vorsorglich.

Wie wackelig die Orga war, ahnt man anhand der Blogger Relations. In den neu gefassten Akkreditierungsrichtlinien hieß es im April noch:

NEU: Wir akzeptieren ab 2020 nur noch Blogger*innen mit mindestens 2500 Followern pro Kanal und lehnen Facebook-Seiten als alleinigen Nachweis ab.

Abgesehen davon, dass Blogger keine Follower zu haben pflegen, sondern Leser und Abrufe, merkte man viel zu spät, dass man in der PR der Buchmesse die Blogger gar nicht mehr über ihre Blogs, sondern nur noch über deren Ableger in den Sozialen Netzwerken wahrnahm. Und nun begann in letzter Minuten ein Umsteuern, denn, so Juergen Boos in der Online-Pressekonferenz, man brauche die Blogger doch. Also Kommando zurück:

NEU: Wir akzeptieren ab 2020 nur noch Blogger*innen mit mindestens 1000 Followern pro Kanal und lehnen Facebook-Seiten als alleinigen Nachweis ab. Diese Vorgabe gilt nicht für klassische Blogs (z.B. WordPress) sondern NUR für die Akkreditierung mit einem Social-Media-Account, z.B. mit Instagram, Twitter, YouTube oder TikTok.)

Nehmen wir einfach mal an, dass ein einfaches Bibliotheksblog ein „klassisches“ Blog in dem vorstehenden Sinne ist. Weder die schneeschmelze noch den albatros gibt es schließlich auf TikTok und Co. Aber wenn alles nur noch im Netz stattfindet, braucht sich auch niemand mehr zu akkreditieren. Der Zweck der Akkreditierung bestand schließlich darin, die Pressekarte zu erhalten, um Zutritt zur Messe an allen Tagen zu haben. Wahrscheinlich haben sich das noch mehr gedacht, denn in der abschließenden Pressemitteilung der Buchmesse werden zum ersten Mal keine Zahlen mehr über die akkreditierten Pressevertreter und Blogger genannt. Es gab keine.

War da überhaupt etwas? Die Fachbesucherveranstaltungen, waren zwar frei abrufbar, nach Anmeldung, sie liefen aber während der Arbeitszeit, die nicht so ohne weiteres für jeden freigegeben wurde. Der einzige für mich interessante Beitrag wäre ein Vortrag der Direktorin der finnischen Nationalbibliothek zu Open Science gewesen, gefolgt von einem Input von DeGruyter zum Verlagsgeschäft in den Geisteswissenschaften. Aber dafür die Arbeit unterbrechen? Ich ließ es gut sein.

Zumal die Buchblogger ebenfalls auf dem Rückzug sind. Zuletzt nachzulesen beim Buchrevier und bei den Lesestunden. Sie sind einfach müde geworden.

Und das „Bookfest digital“ erreichte mich vor allem auf YouTube. Aber da ging es auch wieder vollständig unter, soviel wird dort gestreamt seit März… man ist dessen doch mittlerweile überdrüssig.

Wir sehen vor uns die Buchbranche bei dem Versuch einer nachholenden Digitalisierung. Während der Buchhandel noch immer hauptsächlich vom stationären Geschäft lebt, schwärmen die Verlage und einige Journalisten immer noch vom alten Messegeschehen, wie es früher einmal war. Das wird es aber nie mehr geben. Dass das neue digitale Modell noch nicht funktioniert, kann über das Wegbrechen des alten nicht hinwegtäuschen.

Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue funktioniert noch nicht.

Das gilt übrigens auch für die Bibliotheken. Die Ausleihe der Frankfurter UB schließt noch immer montags bis freitags um 18 Uhr. Wohl dem, der früh genug Feierabend hat, um noch rechtzeitig den Weg dorthin zu finden.

Der Wanderer LX

Zum Beispiel weil das alles bisher nicht für möglich gehalten wurde. Von den Soziologen war schon einmal an anderer Stelle die Rede. Nach Heinz Bude im Deutschlandfunk nun also Armin Nassehi im Spiegel (nicht frei im Netz verfügbar).

Noch zu Weihnachten hatte Nassehi in der „Welt“ über die Zeit zwischen den Jahren ein Loblied auf die Ruhe geschrieben:

In der Tat – alle Systeme außer den absolut lebenswichtigen wie Energie- und Krankenversorgung oder andere Notdienste werden heruntergefahren. Wenigstens das öffentliche Leben wird bis an seine Grenze bradykard. Der Gesellschaftskreislauf wird so weit wie möglich reduziert, und es gelingt tatsächlich für kurze Zeit, dass alles langsamer und ereignisloser wird – zumindest in den öffentlichen Räumen.

Diesen Gedanken hat er weiterentwickelt. Im Gegensatz zu Weihnachten ist das, was wir gerade erleben, nämlich kein kulturell determinierter „Ausnahmezustand“, sondern ein staatlich erzwungener. Und er funktioniere letzten Endes nur deshalb, weil er eine Ausnahme bleibe und auch weil selbst aus soziologischer Sicht mitgedacht werden müsse, dass es das eigentlich gar nicht geben dürfe:

Interessanterweise passiert gerade etwas, von dem wir Soziologen immer gesagt haben: Das geht nicht. In unseren komplexen Gesellschaften sei so etwas wie Durchregieren unmöglich, haben wir in den vergangenen Jahrzehnten geglaubt. Auch wenn sich das viele Menschen immer wieder gewünscht haben, nicht zuletzt Politiker. Dass es nicht möglich war, ist für mich sogar eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne – die großen Katastrophen der Moderne waren Katastrophen, in denen gewaltsam durchregiert wurde.

Eben. Und freilich ist es eine lang andauernde Ausnahme, deren Ende ebensowenig absehbar ist wie die Verhältnisse danach.

Der Wanderer LIX

Zum Beispiel weil es auch eine Zeit nach der Pandemie geben wird. Eine Zukunft, in der wir uns an diese Tage und Wochen erinnern werden.

Als es zum ersten Mal in den Supermärkten leere Regale gab.

Als die Buchläden und die Bibliotheken (und übrigens auch die Kirchen) geschlossen waren. Die Friseure auch. Wochenlang.

Als man nirgendwohin fahren wollte, musste, sollte.

Als alle daheim bleiben sollten.

Als in Grundrechte eingegriffen wurde wie niemals zuvor.

Damals war eine gute Zeit, um Pläne zu schmieden für die Zeit danach, sich auszudenken, was man alles machen würde, wenn es eines Tages vorbei wäre.

Sich auch ein Stück weit neu zu erfinden. Die Gesellschaft auch.

Unbestimmt zwar der genaue Zeitpunkt. Aber irgendwann würden sie die Läden und die Fabriken schon wieder öffnen lassen.

Denn es bestand ein Interesse daran, dass Geld hereinkam.

Es würde zu früh sein, aber es würde sein.

Und dann würde man sich erinnern an diese Zeit. Die dann schon ganz, ganz lange zurückgelegen haben wird.

Der Wanderer LVII

Die leeren Regale in den Supermärkten zum Beispiel. Nudeln, Reis, Papiertaschentücher oder Klopapier. Das Vertrauen in den Einzelhandel ist innerhalb von wenigen Tagen geradezu verpufft. Vanishing in a puff of smoke. Man wird sich darauf einstellen müssen, dass die Läden schon längst nicht mehr das waren, wofür man sie hielt. Die Vorratshaltung im Haushalt, für die unsere kleinen Wohnungen doch gar nicht mehr ausgelegt sind, muss jetzt wieder einsetzen. Die sogenannten „Lieferketten“ – transnational angelegt, just in time bis in die letzte Kleinstadt – sind verletzlich, so sehr, dass sie auch mal völlig ausfallen können.

Die Globalisierung ist an ihre letzte Grenze gekommen. Nicht Attac oder die Börsensteuer, die am Anfang der Globalisierungskritik stand, haben das erreicht, sondern der Spießer, der angesichts eines aus China stammenden Virus‘ und der sich überschlagenden Nachrichten alle denkbaren Waren hortet. Nicht nur hierzulande, übrigens, auch in den USA gab es Hamsterkäufe. Und wenn es keine Tomaten mehr vom Mittelmeer gibt, wird gar nichts anderes übrig bleiben, als sie hierzulande anzubauen. Bin sehr gespannt auf das neue Sortiment.

Ich bin versorgt, mir fehlt nichts, aber ich habe Zweifel, ob das auf Dauer so bleiben wird, und beginne, mir zumindest kleine Vorräte anzulegen, obwohl mir das derzeit aus Gründen gar nicht in den Plan passt. Alles in Maßen, bitte. Es war das vorletzte Stück Seife im Regal, das ich in den Korb lege und zur Kasse mitnehme, wo wir in gebührendem Abstand Schlange stehen.

Dabei merke ich zum Beispiel auch, dass mein Augenmerk mal wieder viel zu sehr auf Bücher und Süßigkeiten gerichtet war. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, tonnenweise Nudeln zu horten oder gar Mehltüten. Das meiste, was die Leute derzeit kaufen, wird am Ende im Abfall landen, es wird verderben, weil es nicht rechtzeitig zu essen ist, und sie werden es nicht zum Beispiel bei den Tafeln abgeben, damit es noch rechtzeitig zu verzehren wäre. Überhaupt: Dort fehlt jetzt ganz viel, und zwar auch auf Dauer, denn dort wurden ja immer die Reste abgegeben, und bei leeren Regalen fehlen sie nun. Berichte über leergeräumte Regale in den Buchhandlungen, die derzeit geschlossen sind, vermisse ich. Immerhin, in den Stadtbüchereien soll es größere Ausleihen und Schlangen vor der Schließung gegeben haben.

Zum letzten Mal ein Buch ausleihen. Zum letzten Mal ein Buch kaufen. Nein. Nein.

Eine Gesellschaft, die den Tod und die Krankheit verdrängt, ist mit ihrer eigenen Zeitlichkeit konfrontiert, und hortet angesichts dessen – lauter Banalitäten.

Der Deutschlandfunk schafft kurzerhand sein Programmschema ab und sendet ein Corona-Notprogramm, vierundzwanzig Stunden lang. Gestrichen wird – die Sendung über Religion. Die Redaktion darf seitdem nur noch verstreute kurze Beiträge am Nachmittag bringen. Die Kirchen, die Synagogen und die Moscheen werden geschlossen. Und die kostenlosen Zeitungen, die bei uns verteilt werden, haben ihr Erscheinen eingestellt. Über Werbung finanziert, blieb ihnen nichts anderes übrig, denn wenn alle Läden geschlossen sind, braucht es auch keine Werbung mehr.

Bildbände über Frida Kahlo gingen derzeit gut, sagte die Buchhändlerin und nickte mit dem Kopf in Richtung auf das Regal, wo man diese Bücher fände, wenn man kaufen wollte, was voll im Trend liegt. Oder Bücher über Ernährung. Also wieder das falsche gewählt? Das ist zwei Wochen her.

Wenn sie mit Mehl statt mit Büchern handeln würde, könnte ihr Laden jetzt noch geöffnet bleiben, auch wenn ihre Regale vollkommen leer wären.