Durs Grünbein „lost in space“

Es war ein Abend der deutlichen Worte im Hörsaal 2 des neu errichteten Hörsaalzentrums, in dem die traditionsreiche Frankfurter Poetikvorlesung an der Goethe-Universität heute zum ersten Mal stattfand. Uwe Timms Vorlesungen im legendären Hörsaal VI waren die letzten auf dem alten Campus in einer Veranstaltungsreihe, die vor genau 50 Jahren 1959/60 mit Ingeborg Bachmanns Vorträgen begonnen hatte. „Lost in space“ fühlte sich Durs Grünbein in dem riesigen neuen Hörsaal – einen größeren hat es an der Frankfurter Universität noch nicht gegeben. Und nach all den Grußworten wollte er es gleich sagen, damit es nicht untergehe: Es sei doch ein sehr bedenkenswertes und problematisches Zeichen, wenn der Hörsaal, in dem einst Adorno über den Völkermord der Nazis gesprochen hatte, abgerissen werde, während das IG-Farben-Gebäude, in dem eben diese Verbrechen mitgeplant und mitausgeführt worden waren, und das dazugehörige Umfeld nun für die Universität wiederhergerichtet werde. Das Publikum applaudierte lebhaft.

Ein weiteres deutliches Wort war an Ulla Unseld-Berkewicz gerichtet, die Leiterin des Suhrkamp-Verlags, und es fiel bereits im ersten der drei Grußworte, in dem darauf hingewiesen wurde, daß ihr Verlag ja nun bald nach Berlin umziehe, oder, mit anderen Worten, demnächst „seinen Abgang machen“ werde. Die Frau Verlegerin nahm dies ungerührt auf. Während sie zum traditionellen Buchmessenempfang noch in Reitstiefeln erschienen war, trat sie heute abend ganz in schwarz gekleidet auf, schwarzer Mantel, schwarzes Barett, dunkle Sonnenbrille. Es wirkte etwas uniformhaft, beinahe wie eine Maske. Und sie sagte kein einziges Wort, sondern ließ sprechen. Der Verlag werde die Poetikvorlesungen an der Universität Frankfurt auch nach seinem Umzug nach Berlin unterstützen, nicht nur finanziell.

Nachdem die Akustik im Saal instandgesetzt worden war, sprach Grünbein in einem sehr dichten und sorgfältig vorbereiteten Vortrag über den „Stellenwert der Worte“ in der Literatur. Eingebunden in detailreiche Erinnerungen an die Umstände, unter denen seine Gedichte entstanden waren, formulierte er pointiert seine Literaturtheorie. Letztlich wisse man nicht, welche literarischen Vorbilder sich in der eigenen Lyrik zeigten. Im Laufe der Jahre habe er immer wieder andere Autoren gelesen. Er nannte unter anderem Georg Heym und Gottfried Benn. Da gebe es viele Stimmen. Es könne keine allgemeine Theorie der Poetik geben, jeder Dichter habe seine eigene Arbeitsweise. Und vieles in einem Gedicht beruhe letztlich auf Zufall. Ein Reim, etwa, werde nicht gesucht, er finde sich. Und dann doch noch ein Flash-back aus der Suhrkamp-Geschichte: Heiner Müller sei es gewesen, der sich damals seiner Manuskripte angenommen habe und der sie Siegfried Unseld zuleitete. Ihn traf Grünbein erstmals bei einem Besuch Unselds in Ost-Berlin.

Es war ein großer Vortrag, und der folgende minutenlange Applaus war ein angemessener Dank dafür. Grünbeins Vorlesung macht neugierig auf die weitere Beschäftigung mit seinem Werk. Auf YouTube gibt es im Kanal des Schweizer Fernsehens ein Interview zu sehen, das Grünbein am 29. Oktober 2009 in der Reihe „Sternstunde Philosophie“ gegeben hatte.

Beim Verlassen des Hörsaalgebäudes weht den Besuchern der schneidende naßkalte Wind entgegen. Auf dem Weg zur U-Bahn kommt man an zwei großen Baustellen vorbei, wo auch nach Einbruch der Dunkelheit noch unter Flutlicht gearbeitet wird. Hohe Kräne überragen alle sie umgebenden Gebäude.

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