Archiv der Kategorie: Literatur

Der Wanderer LXVI

Nur bei den französischen und Schweizer Websites liest man heute Abend schon etwas darüber. Außerhalb der französischen Welt hatte man ihn längst aus den Augen verloren. Bernard Pivot, der Literaturpapst von der anderen Seite des Rheins, ist heute gestorben. Und mit ihm geht wieder ein Teil der 1980er Jahre unter, mit den großen Literatursendungen, den großen Debatten unter alten weißen Männern. Als das Buch noch prägend war und man gelesen haben musste, um die Gespräche zu verstehen, um Anspielungen nachvollziehen zu können. Lange her, so lange schon. – R.I.P.

Die Grenze zur Außenwelt II

Der Perlentaucher verweist heute auf zwei Quellen, die aus der allgemein-wohlwollenden Martin-Walser-Wahrnehmung in den Nachrufen der letzten Woche ausscheren. Zwei einsame Rufer in der Wüste, die sich dem Narrativ vom „Jahrhundertschriftsteller vom Bodensee“ nicht anschließen, und die auf den Skandal der Paulskirchen-Rede verweisen und den offenen Antisemitismus in seinen Texten. Benjamin Ortmeyer in der Jüdischen Allgemeinen und Klaus Bittermann in der Jungle World. Letzterer zeigt auch ein Foto mit den stehenden Ovationen nach der Friedenspreisrede. Wie schon einmal gesagt: Hab nichts mehr von ihm an Bord, und halte ihn auch weiterhin für verzichtbar.

Die Grenze zur Außenwelt

Der größte Teil der Werke Martin Walsers spielt in einem Milieu, das man schon die „alte Bundesrepublik“ nannte, als sie noch gar nicht Vergangenheit war. Tatsächlich sind große Teile dieses Milieus nach wie vor lebendig – in der Welt der besseren Angestellten und im höheren öffentlichen Dienst, unter den erfolgreicheren Selbständigen, Schriftstellern und Freiberuflern. Ihr Verhältnis zur Geschichte und zur Politik ist nicht durchdacht oder gar formuliert. Die Grenze zur Außenwelt ist für sie keine Wand, die man in der Manier des romantischen Helden durchstoßen könnte, sondern eher ein elastisches Gebilde, das weich zurückfedert.

So Thomas Steinfeld heute in der Süddeutschen Zeitung über den gerade verstorbenen Martin Walser. Auch ein Todesfall. Ich habe kein Buch mehr von ihm behalten. Nach Tod eines Kritikers gab ich alle Texte von ihm in den Flohmarkt.

The Sir Salman Rushdie interview

In the end, it’s the books that matter, not the knives.

Ein Jahr nach dem Attentat bei einer öffentlichen Veranstaltung in New York hat Salman Rushdie sein erstes Interview gegeben. Er lebt seit der Veröffentlichung der Satanischen Verse im Jahr 1988 in ständiger Bedrohung und Lebensgefahr – ein Buch, das heute, in Zeiten des sensitivity reading, wahrscheinlich gar nicht mehr veröffentlicht würde, aus Respekt vor den Gefühlen, die dadurch verletzt werden könnten, auch darum geht es in dem Gespräch, wenn auch nur am Rande. Das ist gleichwohl bemerkenswert, denn der Stoff war bisher ganz überwiegend als ein Beispiel für die Meinungs- und die Kunstfreiheit besprochen worden. Ich glaube, mehr Rücksichtnahme wäre besser gewesen, auch hier. Abgesehen vom Verlust eines Auges bei dem Anschlag, gehe es ihm körperlich gut, aber er wisse noch nicht, ob er jemals wieder Veranstaltungen mit Publikum werde durchführen können.

Das Gespräch fand statt in der Hauptnachrichtensendung des BBC World Service Newshour am 12. Juli 2023. Nach 12 Jahren war es die letzte Sendung der Moderatorin Razia Iqbal. Die etwa 20 Minuten lange Unterhaltung wurde ausgekoppelt und am vergangenen Wochenende erneut gesendet. Sie kann ein Jahr lang auf BBC Sounds angehört werden.

Russians

Ein Rückblick in die 1980er Jahre. Das Lied Russians wurde 1985 veröffentlicht. Sting war damals 34 Jahre alt, also fast halb so alt wie er heute ist.

Und wir arbeiten uns immer noch daran ab: Tod, Angst, Abschreckung und Krieg sind zurück in Europa. Es scheint eine Endlosschleife zu sein. Wenn ich an den kalten Krieg denke, wenn ich an Krieg denke, dann denke ich an dieses Lied.

Ich habe auch keine Lösung. Aber auch die reflexhafte Aufrüstung ist falsch. Ich denke auch immer wieder an Sätze von Wolfgang Borchert aus der Nachkriegszeit. Sein Vermächtnis. Sie sind wahr:

Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN! …

Stellvertretend für die Bibliotheken in der Ukraine sei auf die Wernadskyj-Nationalbibliothek in der Hauptstadt Kiew verwiesen. 1918 gegründet, umfasst ihr Bestand 15 Millionen Medieneinheiten, eine der größten Bibliotheken der Welt. Die Benutzung war bis zum russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 geöffnet. Möge sie und mögen andere Kulturstätten und die Menschen dort beschützt sein.

Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz

Es ist jetzt der zweite Durchgang des Bachmannpreises, den ich beruflich bedingt nicht live verfolgen konnte, und am Ende schaut man sich die Videos dann ja doch nicht mehr alle an. Man sucht Zuflucht bei den Zusammenfassungen in den Feuilletons oder beim Literaraturcafé-Podcast, wo Andrea Diener und Wolfgang Tischer auch in diesem Jahr tapfer nacherzählen, was passiert war. Andrea trotz Impfung in ihrer mollig warmen Frankfurter Dachgeschosswohnung, und Wolfgang dieses Jahr getestet vor Ort in Klagenfurt, wo sich die Getesteten, Geimpften und Genesenen beim Public Viewing in der Hitze trafen.

Risikogruppe, anyone? Der gerade verrentete Hubert Winkels ließ sich für seine Rede zur Literaturkritik aus der Ferne zuschalten. Und die Jury kam diesmal im Studio zusammen, nur die Schriftsteller wurden per ORF-iPad hinzugeholt. Der Bachmannpreis als Zoom-Konferenz und lokal. Sie nannten es „hybrid“. Vielleicht tut man sich dann leichter, in die Ferne hinaus auszuteilen?

Heike Geißler ließ jedenfalls ihrem Unmut über die teils ganz offen dilettantische Performance einiger Jurymitglieder im Deutschlandfunk Kultur freien Lauf – und ging danach natürlich bei den Preisen leer aus. Klar.

Ganz knapp gehaltene Berichterstattung in der taz, von einer Autorin, die nicht vom Fach ist, sich aber Mühe gibt, den dünnen Wettbewerb auf den Punkt zu bringen, was ihr am Ende auch gut gelingt:

In Julia Webers Wettbewerbstext sagt Protagonistin Ruth zur Erzählerin: „… manchmal käme ihr das ganze Leben vor wie das Abtrocknen feuchter Hände an einem bereits feuchten Handtuch.“ Vielleicht hat Weber damit ein treffendes Bild für Gegenwartsliteratur gefunden.

Übrigens lag ich mit meiner Prognose völlig daneben. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte.