Des Kaisers neue Kleider

Jakob Augstein hat in einem Vortrag beim Frankfurter Tag des Online-Journalismus, den der Hessische Rundfunk am 17. Juni 2010 zusammen mit dem Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik und dem Medienbefauftragten des Rates der EKD veranstaltet hatte, das Rätselraten um die Auflage des „Freitag“ beendet. Bekanntlich hatte der „Freitag“ die verkaufte Auflage seit November 2009 nicht mehr an die IVW gemeldet. Zuletzt war dort für 3/2009 eine Auflage von 17964 Exemplaren pro Woche ausgewiesen worden. Die „verbreitete Printauflage“ liegt Augstein zufolge derzeit „bei etwa 15000 in der Woche“. Das bedeutet einen Verlust von weiteren fast 3000 zahlenden Lesern in den letzten neun Monaten. Zur Entwicklung der Abonnentenzahlen hat sich Augstein nicht geäußert.

Die Zeitung hat damit seit dem Relaunch Anfang 2009 stetig und massiv an Lesern verloren, ein großer Mißerfolg. Trotz Protesten, wird gleichwohl am verlegerischen Konzept festgehalten, das bis heute als Erfolg beschrieben wird, auch in anderen Medien. Das Narrativ konzentriert sich auf die Online-Community: „Unsere Community besteht aus 7000 Mitgliedern. Wir haben 900 Blogs im Monat und 14000 Kommentare“, heißt es in dem Vortrag. Aber die Community bringt keine Einnahmen herein, wie es vor allem die Abonnenten täten, sie „ersetzt keine Redakteure und spart kein Geld“. Zumal der allergrößte Teil der registrierten User in der Community passiv ist, nur eine Handvoll beteiligt sich dort fortlaufend.

Man verstehe mich recht: Hier geht auch eine publizistische Tradition verloren („Sonntag“, „Volkszeitung“, „Die Tat“). Und man sage nicht, es hätte keinen Hinweis auf des Kaisers neue Kleider gegeben. Sie kleiden ihn weiterhin sehr gut.

3 Kommentare zu „Des Kaisers neue Kleider“

  1. Der Hinweis auf »Die Tat« ist reichlich dunkel, Herr Fenn: Welche publizistische Tradition meinen Sie denn dabei? Die rechtsamalgamierte? Die bildungsbürgerliche? Die Volksstaat/Lebensreform-Richtung?

    Der »Freitag« war immer ein Unicum, das ist wohl wahr. Aber an die großen Abonnentenzahlen von FAZweltSZzeitBILD wird er so schnell wohl kaum anschließen können, daher verstehe ich jedenfalls den Ansatz von Augstein, sich nach anderen Möglichkeiten umzusehen. Das mag konkret-Leser (zu denen ich auch zähle) schmerzen, aber wie ich auch im Kommentar der dortigen Diskussion schrieb, bringt es nichts, die Augen vor der Realität zu verschließen. Gerade das müßten wir Juristen doch eigentlich wissen.

    Aber davon abgesehen: Welche Alternative schwebt Ihnen vor, Herr Fenn? Sollen wir sammeln gehen und Herrn Augstein den Freitag abkaufen? Ich meine das nicht ironisch, sondern ernst. Was genau hat Herr Jürgen Fenn im Auge?

    Interessiert,
    Josef Allensteyn-Puch / j-ap

  2. „Die Tat“ gehörte zur VVN, war also alles andere als rechts und stand früher neben dem „Sonntag“ und der „Volkszeitung“ im Impressum des „Freitag“, ein Hinweis auf die antifaschistische Tradition, in der man sich sah. Jakob Augstein mag sich nach vielem umgeschaut haben, ein tragfähiges Konzept, das dem früheren „Freitag“ das Wasser reichen könnte, hat er aber bisher nicht vorgelegt bzw. umgesetzt, im Gegenteil, es geht immer weiter bergab. In einem Edit in Wikipedia wird zurecht darauf hingewiesen, daß es einen Unterschied zwischen der „verbreitete“ und der „verkauften“ Auflage gebe, mit anderen Worten: Der Verlust gegenüber den letzten IVW-Zahlen dürfte also noch größer ausfallen, als ich es angedeutet hatte. Dem Freitag kann nur eine Rückbesinnung auf seine früheren Tugenden helfen: Schwerpunkt auf Tiefgang, auf Reflexion, auf Langsamkeit und vielleicht auch auf Unzeitgemäßes. Wenn ich mir allein vorstelle, wieviel Zeit und Mühe in das nutzlose Spektakel namens „Community“ einfließt, die beide für die Zeitung fehlen! Wer „Neon“ als Vorbild bezeichnet, hat sich jedenfalls verrannt, das zeigen die Absatzzahlen sehr deutlich. Mir sind jedenfalls nur noch die „Blätter“ und „Konkret“ verblieben, daneben das „Blättchen“ (nur noch online) und „Ossietzky“ — der alte „Freitag“ fehlt mir sehr.

    Wichtig ist mir darauf hinzuweisen, daß die Entwicklung des „Freitag“ seit 2009 mitnichten eine Erfolgsgeschichte ist, sondern eher ein Beispiel für Unbelehrbarkeit angesichts eines ständigen inhaltlichen und wirtschaftlichen Niedergangs.

  3. Vielen Dank für die prompte Antwort, Herr Fenn.

    Ich wollte übrigens in gar keiner Weise die »Tat« als Rechtsblatt hinstellen. Sie war es zu einem gewißen Zeitpunkt, so halb und halb und dann doch wieder nicht — davor war sie es aber nicht und danach auch nicht mehr.

    Aber genau das meinte ich eben: Man kann nämlich bei der »Tat« auch eben jene publizistischen Wechselfälle als die Traditionslinie verorten, und ob Sie das vorhatten, wußte ich nicht. Darum ging es.

    Grüße,
    j-ap

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