Sozialrechtliche Salamitaktik V

Das personalisierende Narrativ wird beibehalten: Die Bundesarbeitsministerin macht einen „Vorschlag“. Der Bundesfinanzminister „lehnt Mehrausgaben ab“. Der „FDP-Verhandlungsführer“ kommt auch drin vor: Er „begrüßte die Vorschläge“ der Ministerin. Der „CSU-Chef“ sei strikt gegen Erhöhungen gewesen. Solange sie ihre Füße unter deren Tisch strecken. Gestern war noch von 20 Euro mehr die Rede gewesen. Heute sprechen sie von fünf. Erhöhung pro Monat. Diese Form der Erzählung trägt hochromantische Züge. Interessen werden von Figuren verstellt. Vor allem die Ideologie des Autors selbst, der diese Geschichte seinem geneigten Publikum in der großen Frankfurter Zeitung überbringt. Der Unwille, sich heute zu solidarisieren, obwohl es nötig wäre, wird mit den Mitteln von gestern gezeichnet. Wie im Märchen: Die böse Fee tritt auf und der böse Zauberer. Der grau-ernste Geschäftsmann. Und im Hintergrund wähnt man die böse Stiefmutter, die alles überblickt und die die Strippen zieht. Jeder kennt sie, ihr Name taucht aber in dem Text nicht auf, hier auch nicht, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Ihren Namen zu nennen, würde nur eine neue Figur in der virtuellen Puppenstube aufstellen, die wiederum die Interessen verstellt, auf die es eigentlich ankommt und die sich hier durchsetzen. „Die Politik wollte ein Zeichen setzen“, sagte Heike Göbel von der FAZ heute mittag in der Frageviertelstunde mit Anrufern nach dem ARD-Presseclub; dann merkte sie beim Weitersprechen, was sie da gesagt hatte. Es ist ein katastrophales Signal für die soziale Substanz, die kaum noch erkennbar ist mittlerweile. Die so dünn geworden ist, daß einem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts voller Selbstverständlichkeiten zur Pflicht des Staates, das sozioökonomische Minimum jedes Bürgers sicherzustellen, vorkommt wie eine Tagträumerei, weltfern, ohne Bezug zum politischen Diskurs der großen Parteien. Denn eines ist sicher: Die SPD, die sich gerade wieder aufplustert, als könnte sie mit ihren 20 Prozent demnächst die Welt aus den Angeln heben, wird sich dem gerade nicht entgegenstellen, sie wird nicht bis zum Jahresende an dem bevorstehenden Gesetz über den Bundesrat noch etwas ändern. Eine Erhöhung des Regelsatzes für Sozialhilfe- und Hartz-IV-Empfänger um fünf Euro ist ganz schlicht eine Frechheit. Was aber noch schlimmer ist: Es ist auch eine Absage an die Demokratie, denn ohne soziale Teilhabe aller Staatsbürger gibt es kein demokratisches Gemeinwesen. Die großen Parteien beseitigen damit Schritt für Schritt die Grundlage, auf der nach der Staatsfundamentalnorm alles ruht: Rechtsstaat und Demokratie. Der Sozialstaat ist kein Selbstzweck. In Art. 20 IV GG heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Wenn die antidemokratische Praxis in der Politik und in der Verwaltung anhält wie in den letzten Jahren, ist es bis dahin nicht mehr weit.