Warum ich nicht mehr twittere, oder: Die Erzählung des Netzes

Genaugenommen blogge ich, seit ich online bin. Kurz nachdem ich, wohl im Sommer 1998, meinen ersten Internetzugang erhielt, entdeckte ich das Usenet, weil die Uni Frankfurt damals noch einen eigenen Newsserver betrieb. Der Server war in Netscape voreingerichtet, so daß ich neugierig reinschaute. Das Usenet war zu dieser Zeit sehr viel gehaltvoller als das WWW, denn die Suchmaschinen waren erst in den Anfängen, sie konnten beispielsweise noch nicht mit der Groß- und Kleinschreibung umgehen, und auch Umlaute machten ihnen Schwierigkeiten. Deshalb waren Inhalte damals sehr viel schwerer auffindbar, selbst wenn sie online vorhanden waren. Im Usenet dagegen fand ich eine systematisch geordnete Welt vor, in der Themen diskutiert wurden. Das ganze über einen ordentlichen Client zugänglich. Das überzeugte mich sofort, und auch die Diskussionen waren dort sehr gehaltvoll. Zu jedem Thema, das aufs Tapet kam, konnte man direkt Fragen stellen und ausführliche und oft kompetente Antworten erhalten, und dabei lernte ich etwas kennen, was ich in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft um mich her sonst noch nie vorgefunden hatte: Wildfremde Menschen gaben ihr Wissen an mich weiter, freigebig und selbstlos wurden da Schätze verteilt. Ich hätte niemals angefangen zu texen, wenn ich damals nicht, aufgrund einer Anfrage in einer Newsgroup, lange und ausführliche persönliche Antworten und Anleitungen erhalten hätte, auch per Mail, in denen mir mehrere Benutzer frei heraus erklärten, wie das geht. Das Ergebnis ist bekannt: Seit 2001 schrieb ich den Topic Index zum TeX Catalogue und trage seitdem auch regelmäßig zur Mitgliederzeitschrift der Deutschsprachigen Anwendervereinigung TeX bei. Auch meine Doktorarbeit schrieb ich fünf Jahre lang in LaTeX. Seit 2005 bin ich Wikipedianer und arbeite auch dort weiterhin an der freien Weitergabe von Wissen mit. Und seit 2008 schreibe ich ein Blog, gleichzeitig begann ich in der Freitag Community zu schreiben (mittlerweile gelöscht), dann sehr bald in der schneeschmelze und an anderen Stellen im Web.

Genaugenommen aber habe ich schon immer gebloggt, seit ich online bin, denn das Bloggen ist für mich nicht nur das Schreiben in einem Blog, das wäre eine rein formale Definition, sondern es ist das freie Schreiben im Web überhaupt. Das Sichmitteilen und das Sichaustauschen ohne ökonomische und manipulative Hintergedanken, Teil sein einer großen virtuellen Gemeinde, die kritisch eingestellt ist, die sich kein X für ein U vormachen läßt und die sich der Aufklärung verpflichtet fühlt. Die fair miteinander umgeht, durchaus auch mal etwas ruppig, man darf das nicht allzu sehr verklären. Die aber jedenfalls den PR-Abteilungen und den Eventmanagern mit Wilhelm Genazinos Büchner-Preisrede zuruft, daß sie sich bitte davonmachen mögen, man brauche sie nicht, für nichts und niemand. Teil einer derart unzeitgemäßen Gemeinde von Netizens zu sein, die früher, als ich zum ersten Mal online ging, der Normalfall war, die ihre E-Mails nicht im TOFU-Stil beantwortet und die kein Microsoft Office verwendet, sondern was Richtiges halt.

Man schrieb an langen FAQs damals, die waren so lang, daß sie in mehreren Teilen in die Newsgroups gepostet werden mußten. Zwölf oder vierzehn Postings nacheinander mit Tips für die Anwender von StarOffice oder für die TeX-User. Oder für diejenigen, die endlich durchblicken wollten, wie das mit den Weissagungen des Nostradamus so ist. Und natürlich FAQs für Leser und die Koch-Gruppen. Exoten, die über Google Groups posteten, erhielten Hilfestellung, damit sie lernen konnten, wie man trotzdem regelkonform am Usenet teilnimmt, und sie nahmen das dankbar an. Man schrieb das Netz voll damals, nur die ganz langen Texte wurden mit der Zeit mehr und mehr in Wikis geschrieben, und auch nicht mehr von einem Autor, sondern kollaborativ. So ersetzten die Wikis mehr und mehr eine wichtige Funktion des Usenets, allen voran natürlich Wikipedia, aber auch eine Vielzahl kleinerer Wikis, die es teilweise ebenfalls bis heute noch gibt.

Entscheidend ist aber, daß man weiterhin schrieb. Das hat sich bis heute erhalten, und zwar nicht nur in Newsgroups und in Wikis, sondern ebenso in Mailinglisten. Aber schon zu Beginn der 2000er Jahre wurden einige von ihnen mangels Beteiligung geschlossen. Und auch mit dem Usenet ging es seitdem bergab, während Webforen und Wikis wuchsen. Und Blogs entstanden, in denen Autoren erstmals allein auftraten, nicht mehr im virtuellen Raum, der allen gehörte, in der virtuellen Allmende des Netzes, sondern unter einer eigenen Domain in einem selbst gestalteten Webspace mit eigenen Texten, und sie vernetzten sich dann untereinander, indem sie Blogrolls führten, in denen sie öffentlich darauf hinwiesen, mit wem sie sich verbunden fühlten, welche anderen Blogger sie läsen, auf wen man sonst noch achten solle. Und RSS-Feeds kamen auf und Feedreader, mit denen man die Blogger las, die neben die Newsreader für die Newsgroups traten. Und die Blogger wurden zu Gastgebern, die zum Kommentieren einluden, was vielfach angenommen wurde. So verschob sich der Schwerpunkt für viele Netizens von den Newsgoups und den Mailinglisten mehr und mehr in Blogs und Webforen, wo man nun weiter schrieb.

Und dieses Schreiben, das genaugenommen im Mittelpunkt von allem steht, das das Netz eigentlich ausmacht und das die Erzählung des Netzes beherrscht, das sein eigenes Narrativ ist und damit über den konkreten Inhalt, von dem dort gehandelt wurde, weit hinausreicht, dieses Schreiben war in seinem Kern immer ein freies Schreiben, ein selbstloses Schreiben. Es war ein echtes Bloggen, wie ich es schon ein paar mal beschrieben hatte und wie es auch meinen Blogs zugrundeliegt. Als Twitter aufkam, war ich zwar nicht ganz von Anfang an mit dabei, aber ich war dort doch ziemlich bald schon aktiv, und zwar als Begleitung zu meinen Blogs, zuerst rund um den Textsatz mit LaTeX, später, als es auf die Bundestagswahl 2009 zuging, auch immer mehr zu politischen Themen.

Die Ablösung der Protokolle und der Plattformen im Laufe der Zeit und die Wanderung der Benutzer vom einen zum anderen Knoten im Netz verläuft nach bestimmten Mustern. Die early birds nehmen das Land in Besitz und richten es her für die Nachkömmlinge, und wenn die late adopters dann endlich Einzug halten, sind erstere schon auf dem Sprung zum nächsten Ziel. Ebenso machen Online-Communities Zyklen in ihrer Entwicklung durch, von der Gründung über das Wachstum und die darauffolgende Schrumpfung bis zum Untergang und ihrer Auflösung. Wikipedia ist beispielsweise weniger attraktiv geworden und schrumpft nun eher, während Facebook stagniert und das Usenet seine Zukunft endgültig hinter sich hat. Viele sind aus den Blogs in die sozialen Netzwerke gegangen, auch bekanntere Autoren wie Kristian Köhntopp schreibt nur noch dort, sein Isotopp-Blog gibts nicht mehr. Darin ist eine radikale Hinwendung zur Gegenwart zu sehen, denn eines sind soziale Netzwerke ganz sicher nicht: Archive. Ihre Suchfunktionen sind zu krude, das Narrativ im zeitlichen Verlauf geht darin unter und steht genaugenommen nur noch dem Betreiber des Netzwerks zur kommerziellen Auswertung des Profils zur Verfügung. Andere sind zu kommerziellen Plattformen gegangen und schreiben jetzt bei Tageszeitungen an Blogs, die vermarktbar sind, oder bei noch anderen Plattformen, die gar nichts einbringen. Oder beim Suhrkamp, der gerade insolvent ist.

Das alles sind Verfallserscheinungen der Netzkultur, die man auch bei Twitter deutlich sieht. Die echten Netizens sind dort schon längst nicht mehr, sie lassen Twitterfeeds laufen oder crossposten von anderen Plattformen her, wo sie eigentlich lesen und schreiben. Jörg Kantel hat nie persönlich getwittert, das macht sein Blog automatisch für ihn, und undenkbar, daß Bruce Schneier dort mehr von sich hören ließe als den RSS-Feed seines Blogs, das es selbstverständlich weiterhin auch als Newsletter gibt. Die breite Masse versammelt sich bei Facebook, einige finden nun den Weg zu Google+, und auf Diaspora findet man eine zunehmend lebendige Gemeinde der kritischen Netizens und Nerds alten Typs, die ich schon von früher her aus dem Usenet kenne, siehe oben. Einige bloggen weiterhin oder wieder bei Antville, wo ich auch vor ein paar Monaten meinen albatros eröffnet hatte. Neben dem zunehmend kommerzialisierten und privatisierten virtuellen Raum entsteht so immer mehr ein zivilgesellschaftlich gestalteter und bereitgestellter Raum. Admins stellen Server öffentlich für Diaspora oder für Friendica zur Verfügung, so wie die Abschaltung von news.t-online.de zum Wachstum freier Newsserver wie dem Open News Network geführt hatte, das ich nutze. Bürger hosten ihre Inhalte selbst, da kann man was spenden, um sich an den Kosten zu beteiligen, und daraus entsteht ein großer Nutzen für alle. Aber Twitter ist endgültig zu einer großen Werbetrommel geworden, die mir zunehmend entbehrlich erscheint. Und ich brauche auch schlicht keine One-to-many-Lösung zum Versenden von SMS. Die Erzählung des Netzes wird dort schon lange nicht mehr geschrieben.

Deshalb habe ich vergangenen Freitag meinen Twitter-Account deaktiviert. Ich werde ihn nicht mehr in Betrieb nehmen. Meine schneeschmelze, der albatros und TeX & Friends reichen aus – wobei ich auch hier über eine andere Lösung zum Bloggen nachdenke, seitdem wordpress.com nach einiger Zeit tatsächlich dazu übergegangen ist, auch auf meinem Blog Werbeanzeigen einzublenden. Meinen Account auf Diaspora behalte ich bei.

3 Kommentare zu „Warum ich nicht mehr twittere, oder: Die Erzählung des Netzes“

  1. Eine schöne und melancholische Suada. Das hast du wunderbar formuliert: „Und dieses Schreiben, das genaugenommen im Mittelpunkt von allem steht, das das Netz eigentlich ausmacht und das die Erzählung des Netzes beherrscht, das sein eigenes Narrativ ist und damit über den konkreten Inhalt, von dem dort gehandelt wurde, weit hinausreicht, dieses Schreiben war in seinem Kern immer ein freies Schreiben, ein selbstloses Schreiben.“

    Ich hoffe, Schneeschmelze bleibt uns noch lange erhalten. Denk bitte vor jedem weiteren radikalen Schritt an deine trägeren LeserInnen 😉

    1. Ja, vielleicht ist es auch ein bißchen Melancholie, aber die ist bei mir ja sowieso immer dabei. 😉 Keine Sorge, ich schreibe weiter, ich werde mich nicht in soziale Netzwerke zurückziehen, aber letztlich ist auch wordpress.com eine kommerzielle Lösung, am Ende wird es bei mir wohl aufs eigene Hosting oder auf eine gemeinnützige Lösung wie Antville hinauslaufen.

      Schade, übrigens, daß wir uns bei den Römerberggesprächen nicht kennengelernt haben. Wenn Du das nächste Mal wieder hingehst, schreie doch bitte vorher mal ganz laut! 🙂

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