Es gibt keinen „irgendwie“ aufrechten Gang II

Von dem Ermittlungsverfahren gegen Andrej Holm erfuhr ich 2007 zuerst über ein Posting, das seine Partnerin Anne Roth an die Mailingliste nettime-l geschickt hatte. Die Strafverfolgung bewegt sich immer zwischen der tatsächlich vorhandenen Kriminalität und der Kriminalisierung von Betroffenen, deshalb ist bei Beschuldigungen immer Vorsicht geboten. Der Schaden, den „die Strafverfolgungsbehörden“ oder „die Beamten“, wie es immer wieder stereotyp heißt, hierbei anrichten können, ist in aller Regel irreparabel.

Jetzt hat Andrej Holm in einem ausführlichen Interview im Podcast Küchenradio zwei Stunden lang von seinen Erfahrungen erzählt. Kurz gefaßt: Ein staatlicher Apparat läuft mit Erfolgsdruck auf Hochtouren und zeigt dabei praktisch keine Rücksicht auf die davon betroffenen Menschen. Telefone und Internetnutzung werden überwacht. Weil man nichts Verdächtiges feststellen konnte, wurde die Überwachung auf immer mehr Anschlüsse und Adressen ausgedehnt, und die Ermittlungsrichter haben das auch bewilligt. Ständige Begleitung, mehr oder weniger inkognito, meist weniger. Kameras auf den Hauseingang gerichtet, möglicherweise auch Wanzen in der Wohnung? Und als Anlaß: Eine Google-Recherche der Polizei nach Texten, die bestimmte Stichwörter enthalten, welche auch in Texten einer linksaktivistischen Gruppe auftraten. Man stieß auf Veröffentlichungen eines linken Soziologen und schloß daraus, er sei der gesuchte Autor, also sei er verdächtig, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben. Untersuchungshaft. Holm war unschuldig, aber er hatte auch Glück. Vor allem seine Partnerin, aber nicht nur sie, stellte die für den Fall notwendige Öffentlichkeit her, unter anderem durch ihr Blog. Und eine große Zahl anderer Wissenschaftler verwendeten sich für seine Freiheit, darunter auch Richard Sennett und Saskia Sassen. Der Fall, der auch bei Wikipedia nachzulesen ist, sorgte international für Aufmerksamkeit.

Was man hier sieht, reicht aber weit über die Strafverfolgung hinaus und gilt letztlich für jeden Apparat, für jede „Verwaltung“, öffentliche wie private. „Verfahren“ laufen, es gibt „Weisungen“, man hat einen „Gegner“, an dem alles verdächtig erscheint, man hat Mittel und Wege, man hat das so geübt, man hat nichts anderes im Sinn, alle machen mit. Man handelt auf Anweisung. Unser Lehrer Klaus Lüderssen sagte einmal in einer Vorlesung: „Wenn Sie beim Gericht und bei der Staatsanwaltschaft anrufen wollen, merken Sie: Die haben die gleiche Telefonnummer.“ Man arbeitet sich zu. Eins greift ins andere. „Und wenn ich es nicht mache, dann macht es ein anderer.“ Und jede kritische Stimme wäre Sand im Getriebe und würde nur stören.

Es gab einmal einen Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, der der Meinung war, es sei irrational, in einer irrationalen Umgebung rational handeln zu wollen. Ich bin mir mittlerweile sicher, daß ich mich für die Verwendung in solchen Apparaten nicht eignen würde, in denen selbständiges und kritisches Denken nicht gefragt sind, und ich weiß, daß viele Menschen gerade durch solche Verhältnisse krank werden, weil sie meinen, es gehe nicht anders, sie müßten dabei „mitspielen“. Aber das reicht nicht, um wirklich etwas zu verändern, denn die übergroße Mehrheit der Menschen ist „anders drauf“. Daran hat sich seit den Studien der Frankfurter Schule zum Autoritären Charakter nichts geändert. Und das Milgram-Experiment ist bekanntlich schon häufig wiederholt worden, immer wieder mit einem ähnlichen Ergebnis.

Man muß sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, alles andere wäre zu deprimierend.

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